Erinnerungsstütze der besonderen Art
Jeder kennt diese Alltagsszene: Man betritt den Supermarkt, stellt fest, dass der Einkaufszettel zuhause liegt, und trotz großer Denkanstrengung kommt man nur auf einen Bruchteil der Artikel. Vergesslichkeit wird als Defizit betrachtet, das das Leben komplizierter macht. Wer chronisch vergesslich ist, gilt schnell als schrullig. Im schlimmsten Fall ist sie ein Symptom von Krankheiten wie Demenz. Ob die Vergesslichkeit nun als Hinweis auf menschliche Fehlbarkeit, als Marotte interpretiert wird oder sich als Krankheit entpuppt, die Konnotationen sind negativ. Ein Projekt am Institut für Psychologie in Bildung und Erziehung wirft ein anderes Licht auf das Thema: Prof. Dr. Stephan Dutke, Dr. Sebastian Scholz und Prof. Dr. Niko Busch widmeten sich dem Phänomen des sogenannten intentionalen Vergessens. "In einer sich stetig verändernden Welt, in der wir mit vielen Informationen jonglieren müssen, hilft absichtliches Vergessen dem kognitiven System des Menschen, flexibel zu reagieren", erklärt Sebastian Scholz. Wer zum Beispiel eine neue PIN für die EC-Karte bekomme, gebe eher die neue, richtige Nummer ein, wenn er in der Lage ist, die alte zu vergessen.
Bekannt ist schon länger, dass das Zusammenspiel zweier Mechanismen das intentionale Vergessen ermöglicht: Zum einen werden Inhalte, die vergessen werden sollen, gehemmt, um deren Speicher- oder Abrufwahrscheinlichkeit zu verringern. Um diese zu erhöhen, werden andererseits Informationen, die erinnert werden sollen, selektiv wiederholt. "Spezielle Areale im menschlichen Gehirn werden aktiviert, wenn Personen bewusst versuchen, eine Information zu vergessen", erklärt Sebastian Scholz, der an der WWU zu Fragen des Erinnerns und Lernens promoviert hat. Das menschliche Gehirn scheine einen Mechanismus zu besitzen, der es ermöglicht, die Bildung von Gedächtnisinhalten zu hemmen und damit die Wahrscheinlichkeit des Vergessens zu steigern. "Meine Forschung zeigte, dass erfolgreiches intentionales Vergessen durch spezifische elektrophysiologische Aktivität in zentralen und frontalen Hirnstrukturen gekennzeichnet war." Somit stelle intentionales Vergessen nicht das einfache Ausbleiben von Lernen dar, sondern eine bestimmte kognitive Funktion. "Die Forschungsergebnisse helfen, Theorien des aktiven und passiven Vergessens nicht nur auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens, sondern auch mit Blick auf messbare Hirnaktivitäten zu differenzieren", ergänzt Stephan Dutke.
Aber warum ist das Vergessen wichtig? "Menschen verfügen über begrenzte kognitive Ressourcen. Einige Theorien besagen, dass ähnliche Inhalte im Langzeitgedächtnis um identische Abrufreize konkurrieren. Wenn aber in der Vergangenheit zu viele ähnliche Informationen abgespeichert wurden, wird der Abruf erschwert", unterstreicht Sebastian Scholz. Das Vergessen spiele außerdem eine wichtige Rolle, wenn bereits abgespeicherte Informationen aktualisiert werden sollen, so wie beim Beispiel der neuen PIN. Ein weiterer Vorteil sei, dass laut aktueller Studien negative Informationen über die eigene Person eher vergessen werden als positive Informationen über das Selbst. "Somit stellt Vergessen auch eine Art ,Immunsystem des Selbstwerts‘ dar", betont Sebastian Scholz. Aber wie stellen es Probanden an, sozusagen auf Knopfdruck bestimmte Informationen, die sie zuvor bekommen hatten, wieder zu vergessen? "Wer krampfhaft versucht, eine bestimmte Sache zu vergessen, erreicht das Gegenteil. Daher ist es sinnvoller, die mentale Repräsentation der zu vergessenden Information durch eine andere zu ersetzen."
Die Prozesse des Erinnerns und des Vergessens unterscheiden sich zwischen Menschen. Eine höhere Leistung im Arbeitsgedächtnis gehe mit einer verbesserten Fähigkeit einher, Informationen erfolgreich zu hemmen. "Biologische Faktoren und die effizientere Nutzung von Lernstrategien können weitere Gründe für Unterschiede sein", erklärt der Psychologe. Außerdem haben Menschen beim Lernen unterschiedliche Assoziationen. "Für eine Person hat das Wort ‚Auto‘ eine höhere Relevanz als für eine andere, die mit diesem Wort nicht viele weitere Inhalte verbindet. Je mehr man aber mit einem Begriff verknüpft, desto besser kann diese Wissenseinheit abgerufen werden."
Autorin: Hanna Dieckmann
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 15. Dezember 2021.