|
Mithilfe des 3D-Muskel-Skelettmodells visualisieren die Forscher im Bewegungslabor arbeitstypische Bewegungsmuster.<address>© WWU - Bewegungslabor</address>
Mithilfe des 3D-Muskel-Skelettmodells visualisieren die Forscher im Bewegungslabor arbeitstypische Bewegungsmuster.
© WWU - Bewegungslabor

Physische Schwachstellen offenlegen

Bewegungswissenschaftler widmen sich der Prävention von Fehl- und Überbelastung im Arbeitsalltag

Bandscheibenvorfall, Karpaltunnelsyndrom, Rheuma – die Gruppe der sogenannten "Erkrankungen des Bewegungsapparates" belegt mit 17,6 Prozent der Fehlzeiten im Beruf den zweiten Rang. Das ergab der Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse für das Jahr 2019. Ein Pilotprojekt der Firma Predimo GmbH, einer Ausgründung der Universität Münster, widmet sich der Prävention solcher Erkrankungen, die durch Fehl- oder Überbelastung im Arbeitsalltag entstehen können. "Wir haben eine Technik entwickelt, mit der wir in den Körper schauen und die Bewegungen und Belastungen messen, visualisieren und analysieren können", sagt Prof. Dr. Heiko Wagner vom Institut für Sportwissenschaft der WWU und Mitgründer von Predimo. Auftraggeber des prestigeträchtigen Pilotprojekts ist der Chemiekonzern BASF.

Das Predimo-Team, das unter anderem aus sechs WWU-Wissenschaftlern besteht, wird mithilfe einer mobilen Messstation die Bewegungsabläufe von zehn Arbeitern des Logistikzentrums von BASF analysieren. Die Probanden werden mit Sensoren ausgestattet, die ihre Bewegungen aufzeichnen. Das von Predimo entwickelte Analyse-Tool "Myonardo" entdeckt physische Schwachstellen im ganzen Körper, die mittel- bis langfristig zu gesundheitlichen Problemen führen können, und stellt sie visuell dar. Dieses 3D-Muskel-Skelettmodell stammt aus dem an der WWU etablierten Bewegungslabor der Arbeitsgruppe von Heiko Wagner. "Bislang gab es kaum Möglichkeiten, um zu berechnen, wie groß die Kräfte sind, die auf Knochen, Muskeln und Gelenke während einer Bewegung einwirken. Wir können nun die Beanspruchung jedes einzelnen der rund 700 Muskelzüge analysieren", erläutert er.

Für die Tests müssen die Probanden sieben Übungen wie zum Beispiel Kniebeugen und einen Bewegungsablauf absolvieren, der für die jeweilige Arbeit typisch ist. Ein innovativer Ansatz, findet Victor Kaupe, Projektmanager Logistik bei BASF. "Wir sind stets auf der Suche nach digitalen Lösungen, die unsere Mitarbeiter unterstützen und ihre Gesundheit fördern. Viele unserer Berufe sind physisch fordernd, zum Beispiel das Verpacken und Verladen. Hier liegt großes Präventions-Potenzial." Bei einem Probelauf im Bewegungslabor stellte sich Victor Kaupe selbst an einen improvisierten Packtisch. Dort hantierte er mit bis zu zehn Kilogramm schweren Kanistern, die die Arbeiter im Lager heben und verschieben. "Das habe ich noch tagelang im Unterarm gespürt. Die visuelle Darstellung zeigte jedoch eine Überlastung im Nacken. Es kann also an einer Stelle ein Problem auftreten, die während der Belastung nicht schmerzt." Im weiteren Verlauf der Studie werden die Daten an Physiotherapeuten des Betriebs weitergegeben, die individuelle Übungspläne erstellen und sechs Monate lang mit den Mitarbeitern trainieren. Nach drei Monaten und zum Abschluss des Projekts nach einem halben Jahr werden die Probanden erneut getestet. "Wenn das Projekt erfolgreich ist, wollen wir die Analyse auch Mitarbeitern anderer Berufsgruppen ermöglichen, um zum Beispiel Haltungsschäden durch Büroarbeit vorzubeugen", sagt Victor Kaupe.

Neben dem Bereich Ergonomie setzt Predimo die Analysetechniken auch zur Bewegungsoptimierung im Leistungssport, der Reha in Krankenhäusern und bei der Unfall-rekonstruktion ein. Die enge Bindung an die WWU ist ein Faktor für die vielversprechende Startphase nach der Ausgründung. Das Bewegungslabor war nicht nur die Keimzelle, sondern fungiert weiterhin als wissenschaftliche Basis. "An der WWU entwickeln wir grundlegende Methoden, die für unsere Produkte maßgeblich sind, nutzen die Infrastruktur und arbeiten an der wissenschaftlichen Expertise." Predimo entwickele diese für die Marktreife weiter. Den Kunden und Interessenten sei wichtig, sich nicht als "Versuchskaninchen" der Forschung zu fühlen, so sei die Idee zur Ausgründung entstanden. Die WWU profitiert durch die Einwerbung von Drittmitteln, bislang rund eine Millionen Euro. Auch der Lehre am Institut für Sportwissenschaft kommen die Synergieeffekte zugute: Studierende können das technische Set-Up des Bewegungslabors und das 3D-Muskel-Skelettmodell nutzen, sie messen und testen selbst.

Die Wurzeln von Predimo sind unverkennbar: Internationale Größen aus dem Rennrad-, Winter- und Mannschaftsport strecken ihre Fühler nach Münster aus. "Teamärzte und -physiotherapeuten sind auf uns aufmerksam geworden. Im Spitzensport, wo Kleinigkeiten den entscheidenden Unterschied ausmachen können, sind die Verantwortlichen stets auf der Suche nach neuen Erkenntnissen und Ansätzen", erläutert Heiko Wagner. Obwohl noch nicht sicher ist, welche Kooperationen zustande kommen, ist die Richtung klar. "Wir wollen im Bereich Bewegungsanalyse und -diagnostik die Innovations- und Marktführer werden", betont Dr. Dirk Bendig, Predimo-Geschäftsführer.
 

Autorin: Hanna Dieckmann

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 15. Juli 2020.

Links zu dieser Meldung