Lernen im ehemaligen Munitionsdepot
Der Raum ist wahrlich keine Schönheit. Wie auch? Schließlich geht es um einen ehemaligen Bunker. Und doch haben sich bereits Künstler, Historiker und Psychologen von diesem speziellen Ort inspirieren lassen. Er liegt im Norden des ehemaligen Munitionshauptdepots Saerbeck. Munition findet sich keine mehr, die Gemeinde Saerbeck hat auf dem 90 Hektar großen Gelände einen mehrfach preisgekrönten Bioenergiepark errichtet. Auf den Dächern der 74 Bunkergebäude glänzen Solarpanels. Windräder ragen in den Himmel, die Rotoren summen. Im Bunker ist es still, den dicken Wänden sei Dank. Neonröhren an der Decke sorgen für Licht, zudem lässt sich die Eingangstür fast über die gesamte Breite zur Seite schieben, sodass auch darüber hinaus Tageslicht und Frischluft hineingelangen.
Obwohl der Raum mit seinen nackten Betonwänden Nachhall hat, kann man Vorträgen und Seminarbeiträgen akustisch gut folgen. Hier lässt sich über vieles nachdenken: über das Verhältnis von Militär und Gesellschaft, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Über die Umnutzung ehemaliger Militärgelände. Über Umwelt- und Klimaschutz. Über Kunst, denn sie lässt sich an den nüchternen Betonwänden des Bunkers wirkungsvoll in Szene setzen. Und natürlich eignet sich der Bunker auch vortrefflich, um sich einem Seminarthema zu widmen. Denn viel Ablenkung gibt es hier nicht.
Das Munitionsdepot war erst 1988 eröffnet worden, also in der Spätphase des Kalten Kriegs. In den oberirdisch angelegten Bunkern lagerte die Bundeswehr noch bis Ende 2010 Waffen und Munition. Kurz nach der Wende soll hier noch DDR-Munition aufbewahrt worden sein. Das Gelände war mit einem Tarnwald überpflanzt, sodass es aus der Luft nicht zu entdecken war, auf Landkarten erschien es lediglich als Grünfläche. Es war streng bewacht. Die Anlage hatte zwar Wirtschaftskraft in den Ort gebracht, war aber von Beginn an umstritten. Mitglieder der Friedensbewegung ließen sich an den Zäunen von den Wachhunden anbellen, die traditionellen Ostermärsche in der Region führten zu dem Gelände. Heute ist es öffentlich zugänglich und ein beliebtes Ziel für Radtouristen. Der Saerbecker Lehrpfad „Weg des Friedens“, der an historische Ereignisse erinnert, führt ebenfalls zum ehemaligen Munitionsdepot.
Seit einigen Jahren wird hier mithilfe von Windkraft, Biogasanlagen und 24.000 Solarmodulen Strom erzeugt. Fast alle Bunker sind an der sonnenzugewandten Seite mit Panels bedeckt. Den Stauraum nutzt in der Regel der Landesbetrieb „Straßen.NRW“ als Lager für Streusalzvorräte. Zwei der Bunker hat die WWU angemietet. Während der eine davon sperrige Ausstellungstechnik beherbergt, ist der andere, der „Bunker Nummer zwei“, für Veranstaltungen eingerichtet.
Die besondere Atmosphäre zieht auch Künstler an. So zeigte der New Yorker Maler Jörg Madlener 2019 in der Ausstellung „Sandstorm & Kassandra“ Werke zu den Themen Krieg und Zerstörung. In einem Masterseminar über Verhandlungs- und Konfliktmanagement übten Psychologie-Studierende von Dr. Klaus Harnack im Sommersemester 2019 hier ihr Verhandlungsgeschick, indem sie eine Sitzung des Weltsicherheitsrats simulierten. „Die Abgeschiedenheit des Raums bietet gute Möglichkeiten die Gruppe konzentriert arbeiten zu lassen“, betont er. „Der Raum kann ein echtes Highlight sein, wenn die Nutzung gut vorbereitet wird und der Rahmen stimmt.“ Aktuell und noch bis Oktober 2020 sind im WWU-Bunker großformatige Silhouetten aus der Serie „Schattenkrampf“ zu sehen, die in einem Projekt der WWU mit der Künstlerin Martina Lückener entstanden sind.
Weil bereits mehrere Workshops zum Thema „Kalter Krieg“ im Saerbecker Bunker stattfanden, nennen einige das Gebäude auch „Geschichtsbunker“. Beim Tag der offenen Tür im Bioenergiepark stellte die Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) 2018 hier ihr bürgerwissenschaftlich geprägtes Projekt „Fremder Nachbar – Leben im Kalten Krieg im Münsterland“ vor. Über tausend Besucher haben allein an diesem Tag die Fotoausstellung, historische Filmausschnitte und weitere Materialien gesehen, Zeitzeugen steuerten eigene Erfahrungen und Exponate bei. Die im Projekt entstandene App „Soundcollage Kalter Krieg“ stellt einige typische Geräusche aus diesem Zusammenhang zur Verfügung. Unter anderem ist in der App genau die rasselnde Kette zu hören, mit der man die Tür am Eingang des WWU-Bunkers öffnet.
Ob Seminar, Ausstellung oder Workshop: Nach der Veranstaltung zieht man die schwere Schiebetür mit der Kette am Seilzug wieder zu, lässt die Scharniere einrasten und macht sich auf den Weg zum Tor des ehemaligen Munitionsdepots. Der zu Fuß in gemütlichen Tempo etwa viertelstündige Weg führt vorbei am Wertstoffhof der Gemeinde, an Wildblumenwiesen, Windrädern und einigen Bürogebäuden. Von dort aus geht es zurück nach Münster. Das ist zwar nur 35 Kilometer entfernt, atmosphärisch liegen jedoch Welten zwischen einem normalen Seminarraum und dem ehemaligen Militärgelände.
„Dies ist der ungewöhnlichste Seminarort der WWU“, unterstreicht AFO-Leiter Dr. Wilhelm Bauhus. Der Raum ist rund 60 Quadratmeter groß und mit Tischen, Stühlen und Ausstellungstechnik wie einer rundumlaufenden Leiste zur Hängung von Bildern ausgestattet. Wer jetzt Interesse spürt: WWU-Mitarbeiter und Künstler können den Bunker für Veranstaltungen und Seminare über die AFO mieten.
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 15. Juli 2020.