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Münster (upm)

Um jedes menschliche Leben ringen!

Gastbeitrag von Prof. Dr. Dorothea Sattler

Prof. Dr. Dorothea Sattler<address>© privat</address>
Prof. Dr. Dorothea Sattler
© privat

Nachdenken über den Begriff „Leben“ - diese Anstrengung verbindet die Theologie mit anderen Wissenschaften. Kann es überhaupt Wissenschaften - menschliche Reflexionen auf die gewordene sowie zu formende Gestalt des Daseins - geben, die nicht „Lebenswissenschaften“ sind? Ist es nicht der Sinn jeder Wissenschaft, das Leben in allen Zeiten und an jedem Ort verstehen zu lernen, um unser Handeln in der Gegenwart verantworten zu können?

Alle Wissenschaften blicken perspektivisch auf das, was Menschen als Leben erfahren. Standorte werden bezogen. Gemeinsam sind die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) der Überzeugung, dass es der Wille des göttlichen Schöpfers ist, das Leben zu schenken und zu bewahren. Die Erfüllung der Gebote dient einem Ziel: Leben und Glück zu wählen, nicht Tod und Unglück (vgl. Deuteronomium, 5. Buch Mose 30,15). Das irdische Leben ist unwiederbringlich einmalig. Niemand darf es leichtfertig gefährden.

In der Corona-Krise ist die Theologie in der Öffentlichkeit stärker präsent als in anderen Zeiten. Antworten auf Fragen werden erwartet, vor denen jeder Mensch in seinem Leben früher oder später steht: Wer bin ich? Wie wichtig ist mein Leben? Welche soziale Gestalt hat bleibenden Bestand? Was kommt nach meinem Tod? Was soll noch geschehen in irdischer Zeit?

Die systematisch-theologische christliche Reflexion hat im 20. Jahrhundert in den Spuren der Gedanken von Karl Rahner (1904-1984) eine „anthropologische Wendung“ genommen, die viele wissenschaftliche Beiträge nachhaltig prägt. Ausgangsort des theologischen Nachdenkens ist in dieser hermeneutischen Orientierung, die das 2. Vatikanische Konzil bestätigt hat, der Mensch mit seinen Fragen an das Leben. Die gläubige Überzeugung dabei ist: Gott hat den Menschen als ein Wesen erschaffen, das das eigene Leben in vielerlei Hinsicht als ein Rätsel erfährt. In Freiheit kann und soll der Mensch sich auf die Suche nach einer Antwort auf die Fragen des Lebens begeben.

Die christliche Theologie nimmt eine spezifische Position im Gespräch mit den Menschen ein, die das Leben zu verstehen versuchen: Sie erinnert an Jesus Christus, der seine Feinde liebte und Hoffnung begründete über den Tod hinaus. Die christliche Theologie beansprucht nicht, dieses Lebenszeugnis als wahr erweisen zu können. Als eine Wissenschaft denkt sie über die intellektuellen Voraussetzungen ihrer eigenen Annahmen nach und bringt sie in das kritische Gespräch mit allen in Zeitgenossenschaft ein.

Die theologisch stärkste Herausforderung ist es gegenwärtig, das unerwartete Geschehen der Corona-Pandemie in eine gedankliche Verbindung mit dem Wirken Gottes in Zeit und Geschichte zu bringen. Gibt es einen Plan Gottes für das Geschick der Menschen? Gibt es eine Vorsehung Gottes? Könnte es gar sein, dass die Corona-Krise als eine Strafe Gottes für ein weit verbreitetes böses Verhalten von Menschen zu verstehen ist? Die gegenwärtige wissenschaftlich verantwortete Theologie ist weit entfernt von solchen Annahmen. Zugleich nehmen wir in selbstkritischer Wahrnehmung mit großem Schmerz zur Kenntnis, dass es Zeiten gab (und leider auch weiterhin gibt), in denen mit kirchlicher Autorität solche Thesen vertreten wurden und werden.

Die gegenwärtige Theologie verortet die Frage, wie Gottes Handeln in der Corona–Pandemie zu denken ist, im Kontext der Theodizee–Thematik: Ist es angesichts des Leidens so vieler Geschöpfe überhaupt berechtigt, auf die Existenz Gottes zu vertrauen? Angesichts der ungeheuerlichen Grausamkeiten in der Geschichte der Menschheit, an deren Verbreitung die Kirchen selbst beteiligt waren und sind, ist es in diesem Zusammenhang geboten, zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln von Menschen zu unterscheiden. Es darf nicht Gott angelastet werden, was Menschen verschulden – beispielsweise auch im Blick auf Vorsorgemaßnahmen. Klagen sollten wir vor Gott – klagen vor allem über uns Menschen. Was ist der Ursprung des Bösen, dessen Folgen wir erleben? Ratlos sind wir – offene Fragen bleiben im Hinblick auf den Auslöser der Infektion. Aus christlicher Perspektive ist eines gewiss: Gott möchte das Leben und nicht den Tod seiner Geschöpfe; Gott möchte auch jene aus dem Tod erretten, die schuldig geworden sind. Gott straft nicht, um Böses mit Bösem zu ahnden - um zu vergelten. Gott möchte Leben bewahren.

Kann es sein, dass in der Reflexion über widerwärtige Geschehnisse auch heilsame Gedanken und Taten im menschlichen Bewusstsein an Bedeutung gewinnen? Wer wollte dies verneinen? Wer von uns hat es nicht in diesen Tagen erlebt, dass manche Gespräche am Telefon länger sind und unerwartet eine existentielle Wende nehmen. Die Frage, was wir wirklich notwendig zum Leben bauchen, stellt sich neu. Stiller ist es in den Läden – aufmerksamer aufeinander; das Leben „entschleunigt“ sich. Im universitären Kontext sind wir in diesem Zusammenhang gewiss sehr hoch privilegiert. Wir bewahren unsere Aufgaben und unsere finanziellen Bezüge. Lasst uns nachhaltig solidarisch sein mit den Berufsgruppen, die nicht diesen Vorzug haben!

Es gibt in diesen Tagen im theologischen Kontext auch vieles zu besprechen, was im engeren Sinn dem kirchlichen Leben zuzuordnen ist. Kontroverse Einschätzungen über die Wirklichkeit der Kirchen kommen dabei zu Tage. Soll es medial vermittelte Feiern der Eucharistie in Bischofskirchen geben - oder wäre nicht gerade jetzt die Stunde aller Christinnen und Christen, die als Getaufte mit ihren Familien in den Häusern auf das biblisch überlieferte Wort Gottes hören und seine Wirksamkeit im Gespräch miteinander bedenken? Was bedeutet es für die Ökumenische Gemeinschaft, wenn der Bischof von Rom den Segen Gottes für die Stadt und die gesamte Welt (Urbi et Orbi) erbittet? Welche Wege finden wir, zwischen den armen und den reichen Kirchen weltweit die Güter zu teilen? Wer erhebt (auch) in den Kirchen die Stimme, wenn Regierungen die günstige Gelegenheit nutzen, sich auf (scheinbar) legalen Wegen auf längere Zeit Vorteile zu verschaffen? Hat der sozial-diakonische Auftrag den Rang in der theologischen Argumentation, der ihr vom Evangelium aus betrachtet zukommt?

Die Theologie ist eine Wissenschaft, die es ihr angesichts ihrer eigenen Differenzierung in unterschiedliche Fachbezüge erlaubt, an mehreren Diskursen im universitären Raum mit Expertise teilzunehmen. Medizinethische Aspekte sind ihr nicht fremd. In historischen Studien können die Zusammenhänge zwischen dem Erleben von Krankheiten und der geistigen Deutung dieser Geschehnisse erinnert werden. Die soziale Diskriminierung von Aussätzigen ist in den biblischen Schriften Gegenstand der Reflexion. Heilung ist von Gott her eine Aussicht - handelt es sich dabei lediglich um eine fromme Illusion? Letztlich stellt sich die Frage: Gibt es Gott? Argumente in dieses Gespräch einzubringen, die dem Anspruch an einen wissenschaftlichen Diskurs entsprechen, das ist die Aufgabe der Theologie.

Ein Wort aus der gemeinsamen jüdisch-christlichen alttestamentlichen Literatur lautet: „Für das Leben ist jeder Kaufpreis zu hoch“ (Psalm 49,9). Es gibt gewiss berechtigte Sorgen im Blick auf die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes, von Europa und der gesamten Welt. Dennoch: Um die Bewahrung eines jeden menschlichen Lebens zu ringen, das ist das Gebot der Stunde.

Prof. Dr. Dorothea Sattler ist Direktorin des Ökumenischen Instituts an der Katholisch-Theologischen Fakultät.

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