Unwiederbringliches Weltkulturgut
Ihr Wert wird auf sage und schreibe fünf Millionen Euro oder sogar mehr beziffert, aber ihre ideelle Bedeutung ist unbezahlbar. Die mittelalterliche Prachthandschrift des Hoya-Missale ist – neben der sogenannten Dyckschen Handschrift – eines der zwei wertvollsten Bücher, die sich im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek (ULB) Münster befinden. „Wir bewahren dieses Meisterwerk mittelalterlicher Buchkunst als Teil einer historischen Tradition auf“, erläutert Dr. Henning Dreyling, Leiter des Dezernats Historische Bestände der ULB. „Die Bedeutung einer solchen Handschrift besteht darin, dass sie ein Unikat darstellt und eine gewisse Aura besitzt.“ In aufwändiger Kleinarbeit ist der Prachtcodex, der zwischen 1420 und 1430 in der Gegend von Utrecht entstand und aus 269 Pergamentblättern besteht, jetzt im Laufe eines Jahres digitalisiert und katalogisiert worden.
Das wertvolle Messbuch ist im Laufe der Jahrhunderte durch viele Hände gegangen. Ursprünglich angefertigt für den Bischof von Utrecht, gelangte es schon bald nach Münster, denn der erste namentlich bekannte Besitzer, nach dem der Codex auch benannt wurde, war Johann II. von Hoya, Fürstbischof von Osnabrück und Münster in den Jahren 1566 bis 1574. „Was dazwischen geschehen ist, weiß man nicht“, kommentiert Henning Dreyling. Aus dem Besitz des münsterschen Domkapitels ging das Hoya-Missale in Folge der Säkularisierung, bei der die Kirche ihre kulturellen Besitztümer verlor, im Jahr 1823 ins Eigentum der Bibliotheca Paulina Monasteriensis, der Vorläuferin der heutigen ULB, über, wo es in einem doppelt gesicherten, klimatisierten Panzerschrank in einem Tresor lagert.
Doch was macht das Messbuch, das vor zehn Jahren sogar als Motiv für eine Sonderbriefmarke der Bundespost ausgewählt wurde, so bedeutend? „Es ist nicht der Inhalt, denn der ist unspektakulär“, urteilt der Experte der ULB. „Messbücher, die wie dieser Codex die liturgische Ordnung mit Liedern und Texten für die großen Feiertage und ein paar andere Gelegenheiten enthalten, gibt es unzählige.“ Stattdessen ist es die prachtvolle Ausstattung, die das Werk so kostbar macht: der Originaleinband des Johann von Hoya in rotem Samt, der Holzdeckel mit Wappen, Silberschmuck und zwei Verschlüsse, die ganzseitige, unter anderem aus Blattgold gefertigte Kanontafel mit 56 aufwändig verzierten Bildinitialen, die reiche Ornamentik mit den Engeln und floralen Mustern, die kleinen mit Gewebe überzogenen Holz-Knoten als Lesezeichen und nicht zuletzt die Goldauflagen. „Sie können sich vorstellen, dass man in einem solch außergewöhnlich gestalteten Werk nicht einfach lesen und blättern darf“, erklärt Henning Dreyling. „Die Benutzung wird restriktiv gehandhabt. Wer das Original anschauen will, der muss einen triftigen wissenschaftlichen Grund dafür haben.“
Umso wichtiger war es deshalb, dieses „unwiederbringliche, unwiederholbare, einmalige Kulturgut“ (Henning Dreyling) digitalisieren zu lassen, um es der Wissenschaft und der Öffentlichkeit leichter zugänglich zu machen. Da der ULB für eine angemessene Digitalisierung in dieser Größenordnung und auf diesem Niveau nach Auskunft von Henning Dreyling die technischen Mittel fehlen, wurde die Bayerische Staatsbibliothek, die über ein großes Digitalisierungszentrum verfügt, mit dieser anspruchsvollen Aufgabe beauftragt. Voraussetzung dafür war allerdings, dass ein Sicherheitstransport für die Prachthandschrift von Münster nach München organisiert werden musste, den nur ganz wenige auf Kunst und Kultur spezialisierte Speditionen durchführen können. „Ich habe noch nie ein so aufgeräumtes Umzugsauto gesehen wie in diesem Fall“, schmunzelt Henning Dreyling. „Das war ein Wagen, der nichts anderes transportiert hat als die in einer großen Kiste gelagerte Handschrift.“
Was hat Henning Dreyling zu seiner nicht ganz alltäglichen Tätigkeit gebracht, und wie ist seine innere Einstellung dazu? 1963 in Hannover geboren, studierte er an der Universität Köln Klassische Philologie (Latein und Griechisch) und schloss das Studium 1994 mit dem Magister ab; zwei Jahre später wurde er in Latein promoviert und absolvierte anschließend eine Ausbildung an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek in Hannover. Seit 2002 ist er Mitarbeiter der ULB Münster, seit Februar 2018 Leiter des Dezernats Historische Bestände, das sich mit frühneuzeitlichen Handschriften, Nachlässen, Musikalien, Drucken und Altkarten beschäftigt. „Ich bin mir stets bewusst, mit was für exzeptionellen Dingen ich umgehe“, erklärt er, „aber ich bemühe mich auch um einen professionellen Umgang damit. Man darf sich von der Faszination nicht blenden lassen.“ Sein Dezernat sorge für die angemessene Aufbewahrung solcher Schätze und kümmere sich zugleich darum, dass sie durch moderne Technologien leichter zugänglich und benutzbar gemacht würden. Die Digitalisierung stelle zugleich eine Form des Bestandschutzes dar und erspare Wissenschaftlern aus Harvard, Oxford oder Moskau weite Reisen zum Objekt ihrer Forschungen. „Und wer weiß? Vielleicht erfahren wir mit Hilfe des technologischen Fortschritts eines Tages sogar, wer genau das Hoya-Missale aufgeschrieben und an die Nachwelt weitergegeben hat“, macht Henning Dreyling der Forschung Hoffnung.
Autor: Gerd Felder
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben, Nr. 7, November 2019.