Die Bandbreite der Chemie entdecken
Dass Chemie nicht gleich Chemie ist, sondern viele Facetten hat, erfährt WWU-Chemiestudentin Lena Viergutz Tag für Tag, wenn sie zwischen den Hörsälen und Laboren von der Anorganischen Chemie bis hin zur Batterieforschung hin- und herwechselt. Seit vergangenem Wintersemester hat sie genau wie ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen außerdem die Chance, nicht nur in die universitären Labore, sondern auch in die Produktionshallen von Unternehmen zu schauen. „Industrielle Chemie“ heißt die Veranstaltung, die als festes Wahlpflichtmodul in den Master-Lehrplan integriert ist.
„Wir haben auf wissenschaftlicher Ebene viele Verbindungen in die Industrie und wollten diese Kooperationen auch in die Lehre einbinden“, erklärt Prof. Dr. Cristian Strassert vom Center for Nanotechnology der WWU. Als Modulverantwortlicher spricht er stellvertretend für sechs Kollegen aus den Instituten für Physikalische, Anorganische und Analytische Chemie, die in die Veranstaltung involviert sind. Um das Premieren-Programm im vergangenen Semester auf die Beine zu stellen, kurbelten die Wissenschaftler ihre über Jahre entstandenen Kontakte in die Industrie an. Die 22-jährige Lena Viergutz war am Ende eine von 15 Studierenden, die die Arbeit von mehreren Chemieunternehmen in Nordrhein-Westfalen, darunter Tascon, ION-TOF, Evonik, Urenco, Venator und BASF Coatings, genauer kennenlernen konnten.
Was sich zunächst wie ein paar entspannte Studienfahrten anhört, ist Teil eines umfassenden Lehrkonzepts: In fünf Themenwochen erwarten die Teilnehmer neben den Ganztagesbesuchen der Firmengelände mehrere Vorlesungen zum Thema – sowohl von dort arbeitenden Chemikern als auch den Universitätslehrenden. Anschließend erstellen die Studierenden jeweils in Kleingruppen Lernskripte, die sie und ihre Kommilitonen auf die individuelle mündliche Abschlussprüfung vorbereiten. „Diese breiten Anwendungsbereiche aus den Unternehmen lernt man nicht in Lehrbüchern“, ist sich Cristian Strassert sicher. Er gibt gerne zu, dass auch er durch das erste Modul viel über industrielle Aspekte der Chemie dazugelernt hat.
Und was haben die Unternehmen von einer solchen Kooperation? „Langfristig suchen wir natürlich immer nach Fachleuten“, sagt Diplom-Ingenieur Tim Korbmacher, der bei der Premiere des Moduls den Studierenden etwas über Sicherheitstechniken beim Unternehmen Urenco, dem Betreiber einer Urananreicherungsanlage, erzählte. „Die Sichtweisen und Fragen von Studierenden geben uns außerdem Anreize, auch mal selbst aus einem anderen Blickwinkel zu denken.“ Am Urenco-Standort in Gronau konnten und können sich die Studierenden die deutschlandweit einzigen Gaszentrifugenanlagen ansehen, in denen Uran zur Verwendung in Kernkraftwerken angereichert wird. Eine äußerst exklusive Angelegenheit, denn in diesen Bereich des Unternehmens haben Außenstehende normalerweise keinen Zutritt – die Technologien sind geheimgeschützt. Der Besuch ist auch Lena Viergutz in Erinnerung geblieben: „Wir mussten durch eine Sicherheitskontrolle wie am Flughafen und unsere Handys abgeben, damit diese keine geheimen Daten abfangen können“, erzählt sie beeindruckt. Der Grund liegt auf der Hand, schließlich kann man mit Uran nicht nur Energie, sondern auch Waffen herstellen.
„Wir haben mit den Mitarbeitern des Unternehmens viel über die unterschiedlichen Seiten der Kernkraft diskutiert. Das Thema hat mich noch lange beschäftigt“, erzählt Lena Viergutz. „Die Diskussion mit Studierenden zeigt uns auf, welch großes Interesse, Vorwissen und Neugier sie an den einzelnen Technologien mitbringen. Das ist spannend und für beide Seiten gewinnbringend“, berichtet auch Dr. Sonja Stroot von Urenco. Die Chemikerin für Ökochemie und Umweltanalytik stellt in ihrer Lehreinheit den umfangreichen Kernstoffkreislauf – von der Mine bis zum Endlager – vor. So lernen die Studierenden in einem Nebeneffekt, auch kontrovers diskutierte Themen sachlich und fachlich beurteilen zu können.
Im kommenden Wintersemester werden wieder 15 Studierende die Möglichkeit haben, an dem Modul teilzunehmen, um so die große Bandbreite der Chemie zu entdecken, Kontakte zu Unternehmen zu knüpfen und mit den Mitarbeitern ins Gespräch zu kommen. Für Cristian Strassert ist das besondere Programm ein Gewinn für die universitäre Lehre: „Die industriellen Bereiche sind natürlich nicht der Kern unserer Arbeit an der Universität – wir betreiben Grundlagenforschung und gehen tief in die Details. Durch das Modul erhalten die Studierenden aber einen Blick auf das große Ganze und können ihren Horizont erweitern.“
Autorin: Svenja Ronge
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung „wissen|leben“ Nr. 3, 8. Mai 2019.