Urbane Xenokratie als interaktives statebuilding:
Madras 1639–1746
Das Teilprojekt soll mit Fort St. George/Madraspatnam (heute: Chennai) ein urbanes Gefüge als lokalen Raum von Xenokratie im 17. und frühen 18. Jahrhundert untersuchen. Auf den ersten Blick erscheint Madras als Paradebeispiel für eine koloniale Xenokratie unter den Bedingungen kultureller Distanz: Englische Faktoren der East India Company (EIC) errichteten 1639 neben dem Fischerdorf Madraspatnam an der südöstlichen Küste Indiens das festungsartige Fort St. George, aus dem eine Großstadt erwuchs, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine der Säulen des britischen Empires in Indien bildete, einem zweifelsohne „increasingly racialized state“ (Balachandran 2008b).
Formen des ‚Othering‘ reichten bis ins 17. Jahrhundert zurück. Ein besonders deutlicher Ausdruck dessen war die Unterteilung der Stadt in eine um 1700 schon so bezeichnete englische White Town und eine tamilisch dominierte Black Town. Angeschlossen wird hier allerdings an neuere Forschungen, die für die Frühzeit von Madras (1639–1746) transkulturelle Dimensionen und die Handlungsmacht lokaler Akteur:innen betonen sowie die Vordatierung rassistischer Kategorien problematisieren und stattdessen auf eine „multiplicity of early modern concepts of human difference“ (Nightingale 2008: 51).
Das Teilprojekt soll daher spezifisch frühneuzeitliche Differenzkategorien in der Verwaltungssprache von Fort St. George identifizieren und diese auf ihre Veränderungen und praktischen Folgen hin untersuchen. Xenokratie wird dabei als wechselseitiger Lernprozess verstanden: Die nicht-englische Stadtbevölkerung lernte, die Institutionen und Verfahren der englischen Faktoreiverwaltung für ihre Zwecke zu nutzen. Sie brachte ihre vielfältigen Erb-, Schuld-, Geschäfts- und Ritualkonflikte vor Gericht und formulierte ihre Anliegen in Petitionen: Almosen konnten mit diesen Medien ebenso erbeten wie der Bau neuer Stadtviertel für bestimmte Kasten oder Handwerkergruppen stimuliert werden. Die englische Faktoreiverwaltung (Presidency) wiederum lernte, sich angesichts der faktischen und expliziten Einforderung von Regierung als gesamtstädtische Obrigkeit zu verstehen und zu verhalten, auch in öffentlich-symbolischer Weise.
Untersucht werden soll, wie diese Lernprozesse mit Formen des wechselseitigen, xenotypisierenden Otherings verbunden waren, in welchen Kontexten diese Formen mobilisiert wurden oder auch keine Rolle spielten, welche Unterscheidungen auf diese Weise aufgerufen, verfestigt oder wieder verflüssigt wurden. Dabei soll ein integrativer Zugriff verfolgt werden, indem Madras als vormoderner urbaner Kommunikations- und Resonanzraum verstanden wird.