Textverstehen

Gemeinsame theoretische Grundlage der Modellierung von Textverstehen und Textverstehensprozessen in den einzelnen Fächern, der Beschreibungen der fachspezifischen Fähig- und Fertigkeiten der Schülerinnen und Schüler sowie der fachdidaktischen Überlegungen zur Förderung des Textverstehens in den unterschiedlichen Fächern bilden drei verschiedene, aber ineinandergreifende Forschungsperspektiven auf das Textverstehen: die kognitionspsychologische Perspektive, die differenziell-psychologische Perspektive und die lesedidaktische Perspektive.

  • Textverstehen aus kognitionspsychologischer Perspektive

    Aus kognitionspsychologischer Perspektive wird Textverstehen als eine kognitiv-konstruktive Text-Leser-Interaktion, als ein vom Text gesteuerter Konstruktions- und ein vom Vorwissen, den Fähigkeiten und Aktivitäten der Leserinnen und Leser beeinflusster Integrationsprozess verstanden (Kintsch 1988). Das Ergebnis dieser Konstruktions-Integrationsprozesse ist die Bildung eines Situationsmodells, also die „mehr oder weniger kohärente mentale Repräsentation des Textes“ (Artelt et al. 2007, S. 11).
    Dieser komplexe Prozess des Textverstehens umfasst verschiedene hierarchieniedrigere und hierarchiehöhere Teilprozesse (Richter & Christmann 2006).
    Zu den hierarchieniedrigen Prozessen zählen z. B. die Worterkennung (Rekodier- und Dekodierfähigkeiten) und die Bildung lokaler Kohärenzen, d. i. die Verknüpfung von Wortfolgen zu einem Satz bzw. die Verknüpfung einzelner Sätze miteinander. Dazu werden die syntaktischen und semantischen Relationen der Wörter und Sätze beachtet und integriert. Hierarchiehöhere Prozesse umfassen die globale Kohärenzbildung, d. i. die Verknüpfung verschiedener, auch weiter auseinander liegender Textstellen miteinander, die Bildung von Superstrukturen und das Erkennen von Darstellungsstrategien (Artelt et al. 2007; Rosebrock & Nix 2020).
    Diese Verstehensprozesse werden von Text- wie Leserseite determiniert: Zum einen wirkt sich die Beschaffenheit des jeweiligen (kontinuierlichen oder diskontinuierlichen) Textes, z. B. die Komplexität seiner sprachlichen Textoberfläche (Ballod 2001; Christmann 2006), die Konstitution der semantischen Textbasis (Artelt et al. 2007; Schmitz 2016) sowie die Struktur (Artelt et al. 2007; Brinker et al. 2018), die wiederum von der Textart sowie der je fachspezifischen Darstellungsweise von Wissen beeinflusst wird, unmittelbar auf die Verständlichkeit von Texten aus.
    Zum anderen hängt das Verstehen von Texten von den individuellen Fähig- und Fertigkeiten der Leserinnen und Leser ab.
    So verfügen gute Leserinnen und Leser erstens über die notwendigen, basalen Lesefähigkeiten, können also Buchstaben, Wörter und Sätze dekodieren, haben diese Dekodierprozesse weitestgehend automatisiert, lesen angemessen schnell sowie prosodisch sinnvoll. Dies wird innerhalb der lesedidaktischen Forschung im Konzept der Leseflüssigkeit (Reading Fluency) zusammengefasst (Rosebrock & Nix 2006; Rosebrock et al. 2017). In Bezug auf das Textverstehen gilt: Je automatisierter der Dekodierprozess erfolgt, desto mehr kognitive Ressourcen werden für tiefere Verstehensprozesse wie z. B. die Inferenzbildung frei (Artelt et al. 2002).
    Zweitens sind Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit sowie die Leistungen des Arbeitsgedächtnisses zentrale Bedingungen für den erfolgreichen Textverstehensprozess. Liegen beispielsweise Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen vor, die sich auf den Grad der Wachheit, die Aktivität sowie die Ausdauer beziehen, können Schwierigkeiten bei der Verknüpfung von Informationen, bei der Integration neuer Informationen in bestehendes Wissen sowie bei der Strukturierung von Informationen auftreten. Die Verstehensleistung, so lässt sich mit Grzesik (2005) zusammenfassen, steht proportional zur aufgewandten Aufmerksamkeit und Konzentration. Insbesondere hinsichtlich der Integration von kontinuierlichen und diskontinuierlichen Texten, die in einigen Fächern eine zentrale Rolle spielen, das Arbeitsgedächtnis jedoch zusätzlich belasten, sind zudem auch die Dual-Code-Theory (Pavio 1986) sowie die Cognitive-Load-Theory (Sweller et al. 2011) von Bedeutung.
    Drittens gelten auch das Vorwissen und die Vorerfahrungen bzw. die Fähigkeit, das Vorwissen für spontane Inferenzen einsetzen zu können, als zentrale Voraussetzungen für das Verstehen von und den Umgang mit Texten (z. B. Helmke & Weinert 1997; Schraw 2006, Richter & Christmann 2006). Insbesondere die Verfügbarkeit des themenspezifischen Vorwissens markiert einen Unterschied zwischen schwachen und guten Leserinnen und Lesern. Studien haben gezeigt, dass eine hohe themenspezifische Expertise – zumindest bei anspruchsvollen Texten – schlechte Lesefertigkeiten sogar teilweise ausgleichen kann (Artelt et al. 2007). Neben diesem themenspezifischen Wissen sind auch Erfahrungen und Vorstellungen bzw. Präkonzepte von Schülerinnen und Schülern, also subjektive Theorien, die sich alltagsweltlich bewährt haben, um einen bestimmten Sachverhalt erklären zu können (z. B. Duit 2008; Günther-Arndt 2014), von Bedeutung, da diese den Lesefokus sowie die Selektion von Informationen determinieren. Eventuell vorliegende Fehlkonzepte wie z. B. kulturell-bedingte differente Schemata von einem Gegenstand oder Sachverhalt können das Verstehen erschweren oder sogar verhindern.
    Nach dem Good-Strategy-User-Modell (Pressley et al. 1987, 1989) sind viertens vor allem das Wissen über Lesestrategien und die Fähigkeit, diese effektiv einzusetzen, entscheidende Merkmale guter Leserinnen und Leser. Lesestrategien sind zielgerichtete, flexible und situationsabhängige Prozesse und Verhaltensweisen, die bestimmte Funktionen im Bereich der Planung und der Steuerung des Textverstehensprozesses erfüllen (Artelt et al. 2007; Hasselhorn & Artelt 2018).
    Vor diesem Hintergrund stellen sich die einzelnen am Projekt beteiligten Fächer die Frage, wie Schülerinnen und Schüler zu einem strategischen Umgang mit Texten des jeweiligen Faches befähigt werden können. Dabei wird einerseits die Beschaffenheit der Texte und deren je fachlich spezifische Anforderungen fokussiert, andererseits hinterfragt, über welche fachspezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten die Schülerinnen und Schüler verfügen müssten, um sich die Fachtexte erschließen zu können.

  • Textverstehen aus differenziell-psychologischer Perspektive

    Während kognitionspsychologische Ansätze dezidiert die kognitiven und metakognitiven Prozesse des Textverstehens zu beschreiben versuchen, zielt die differenzielle Psychologie in Anlehnung an das Rahmenkonzept Reading Literacy vor allem auf eine kompetenzorientierte Beschreibung von Textverständnis. Den groß angelegten Schulleistungsuntersuchungen wie der PISA- und der IGLU-Studie sowie anderen psychometrischen Testverfahren, die auf eine produktorientierte Erfassung von Lese- und Verstehensleistungen abzielen, das heißt die Güte des Textverständnisses anhand des Outputs messen (Müller & Richter 2014), liegen meist differenziell-psychologische Perspektiven zugrunde. Die OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development), die die PISA-Studie seit 2000 im Abstand von drei Jahren durchführt, definiert Lesekompetenz als „die Fähigkeit, geschriebene Texte, Abbildungen und Tabellen zu verstehen, zu nutzen und über sie zu reflektieren, um eigene Ziele zu erreichen, das eigene Wissen und Potenzial weiterzuentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen“ (Artelt et al. 2010). Um die genannte Fähigkeit, Texte zu verstehen und systematisch zu erfassen, zu operationalisieren, werden unterschiedliche Kompetenzstufen beschrieben:
    (1) das Suchen und Extrahieren von Informationen im Text,
    (2) das textbezogene Kombinieren und Interpretieren und
    (3) das Reflektieren und Bewerten des Gelesenen.
    Aus differenziell-psychologischer Perspektive bzw. durch psychometrisch angelegte Verfahren lassen sich zwar nicht die einzelnen kognitiven und metakognitiven Prozesse, durch die diese Unterschiede in den Leistungsniveaus zustande kommen, beschreiben, jedoch aber die Unterschiede in den Verstehensleistungen von Lesenden differenzieren. Dies wiederum kann erstens dazu beitragen, fachlich unterschiedliche Leseleistungen der Schülerinnen und Schülern zu diagnostizieren und zweitens eine Grundlage dafür bilden, geeignete Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten für das Verstehen von Texten bzw. den strategischen Umgang mit Texten zu entwickeln.

  • Textverstehen aus lesedidaktischer Perspektive

    Aus lesedidaktischer Perspektive stehen Fragen nach der Trainierbarkeit von Textverstehensprozessen im Vordergrund. Grundsätzliches Ziel der Förderung des Textverstehens ist die Befähigung der Schülerinnen und Schüler zu einem zielführenden Umgang mit Texten, der sich unabhängig von konkreten Inhalten positiv auf das Textverstehen und das Lernen mit und aus Texten auswirken soll (Streblow 2004).
    Die vom National Reading Panel (2000) veröffentlichte Metaanalyse von 379 evidenzbasierten Einzelstudien zu spezifischen Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenz zeigt, dass vor allem zwei verschiedene Bereiche gefördert werden können und sollten: Zum einen beziehen sich Fördermaßnahmen auf hierarchieniedrige Prozesse, also basale Lesefähigkeiten. Dies ist insbesondere durch ein Training der Leseflüssigkeit, das ein Sichtwortschatztraining sowie die Steigerung der Lesegeschwindigkeit integriert, möglich. Diese Förderung der basalen Lesefähigkeiten obliegt meist dem Fach Deutsch.
    Zweitens sollten die Maßnahmen auf hierarchiehohe Prozesse des Verstehens, das heißt auf die Förderung globaler Kohärenzbildungsprozesse ausgerichtet sein. Darunter fallen alle Fördermaßnahmen, die auf einen selbstregulierten und strategischen Umgang mit Texten abzielen, also den Einsatz von kognitiven Lesestrategien sowie die metakognitive Verstehensüberwachung fördern. Dabei wird mit Shanahan & Shanahan (2012) zwischen einer Intermediate Literacy, der Fähigkeit, allgemeine Lesestrategien, die der Erfassung von allgemeinen Informationen aus einem Sachtext dienen, einzusetzen und der Disciplinary Literacy, der Fähigkeit, fachlich profilierte Lesestrategien zur Erschließung von Fachtexten zu nutzen, unterschieden.
    Um das Textverstehen von Schülerinnen und Schülern demgemäß zielgerichtet und fachlich profiliert fördern zu können, bedarf es einerseits Informationen über ihre individuellen Voraussetzungen sowie ihre Stärken und Schwächen in Bezug auf die einzelnen Teilprozesse des Textverstehens im Fach. Andererseits finden auch Einflussfaktoren wie die Motivation und die Volition, das lesebezogene Selbstkonzept sowie vorhandenes Vorwissen und vorhandene Präkonzepte Beachtung in den fachdidaktischen Konzeptionen.

Disciplinary Literacy

Während die Forschung zur integralen Förderung von literalen und fachlichen Fähigkeiten im deutschsprachigen Raum noch in den Kinderschuhen steckt und die Modellierung von strategiebasiertem Textverstehen im Fach weitestgehend ein Desiderat darstellt, wird das fachliche Textverstehen im angloamerikanischen Raum bereits seit den späten 1990er Jahren unter dem Stichwort Disciplinary Literacy als Teil fachlichen Kompetenz- und Wissenserwerbs verstanden und als Fundament fachlichen Lernens profiliert.
Disciplinary Literacy bezieht sich auf die Besonderheiten des Lesens, Schreibens und der Kommunikation innerhalb einer Fachdisziplin und fokussiert die Denk- und Handlungsweisen, die von Expertinnen und Experten in den Disziplinen verwendet werden (Shanahan & Shanahan 2012). Dieses fachlich profilierte Literacy-Konzept wird als Zusammenspiel von Fachwissen, fachspezifischen Erfahrungen und Fähigkeiten sowie der Fähigkeit, fachspezifisch zu lesen, zu schreiben, zuzuhören und zu sprechen sowie so zu denken, wie es in der fachlichen Disziplin sinnvoll ist, definiert.
Lesestrategien werden auf dieser Grundlage als fachspezifische Werkzeuge verstanden, die auch die jeweiligen Fachexpertinnen und Fachexperten nutzen, um Fachtexte zu erschließen.
Die Vermittlung und das Training dieser fachspezifischen Werkzeuge können daher nur in jedem Fach selbst erfolgen und sukzessive mit den fachspezifischen Denkweisen und Kommunikationsformen erlernt werden.
Shanahan & Shanahan (2008) modellierten vor diesem Hintergrund ein Progressionsmodell, in dem sie zwischen einer basalen Basic Literacy, einer fächerübergreifenden Intermediate Literacy, zusammengefasst als Content Area Literacy, und einer domänenspezifischen Disciplinary Literacy unterscheiden:

Strukturgrafik zur Disciplinary Literacy (Shanahan & Shanahan, 2012)
© Disciplinary Literacy
  • Content Area Literacy

    Content Area Literacy umfasst die Fähigkeiten, allgemeine Sachtexte zu verstehen, zu behalten und für weiterführende Arbeiten nutzen zu können. Sie setzt sich aus der Basic Literacy und der Intermediate Literacy zusammen.
    Als Basic Literacy werden die basalen Lesefähigkeiten, also eine angemessene Dekodierfähigkeit, ein ausreichender (Sicht-)Wortschatz und die Fähigkeit, kurze Texte zu erlesen, verstanden (Shanahan & Shanahan 2008). Diese basalen Lesefähigkeiten werden z. B. durch Übungen zur Leseflüssigkeit und Lesegeschwindigkeit im Deutschunterricht erworben und dienen als Grundlage für die weiterführende und auch fachspezifische Lesekompetenz.
    Intermediate Literacy meint das erweiterte Textverstehen. Neben der basalen Lesefähigkeit (Reading Fluency) ist dabei das Wissen über und das Anwenden von allgemeinen Lesestrategien grundlegend (Shanahan & Shanahan 2008). Hervorgehoben wird, dass Leserinnen und Leser ein „common set of reading strategies“ (Shanahan & Shanahan 2012, S. 8), das sind allgemeine Lesestrategien, benötigen, um Informationen aus einem allgemeinen Sachtext zu erfassen.
    Die Content Area Literacy bezieht sich somit auf die fachunspezifischen kognitiven Anforderungen des Lesens und Verstehens von Texten.

  • Disciplinary Literacy

    Um Fachtexte der unterschiedlichen Disziplinen zu verstehen, reicht diese allgemeine Content Area Literacy jedoch nicht aus. Dazu sind fachspezifische (Lese-)fähigkeiten von Bedeutung, die unter dem Begriff der Disciplinary Literacy zusammengefasst werden. Mit der Disciplinary Literacy werden also die fachspezifischen Textverstehensprozesse, die in einem engen Zusammenhang mit den jeweiligen epistemischen Grundlagen des Faches und damit auch mit den spezifischen fachlichen Kompetenzen stehen, fokussiert. Vor diesem Hintergrund werden auch fachlich profilierte Lesestrategien hervorgehoben, die die Expert*innen in einer Disziplin nutzen, um Texte zu erarbeiten (Shanahan & Shanahan 2012). Ziel im Sinne dieses Ansatzes ist es, auf der Grundlage der Spezifik der einzelnen Disziplinen und der Anforderungen der jeweiligen Fachtexte fachlich profilierte Lesestrategien zu vermitteln. Damit werden die Schülerinnen und Schüler zu disziplinären Insidern. Das heißt, sie lernen auf der Grundlage fachspezifischer Denk- und Kommunikationsformen einen disziplin-adäquaten Umgang mit Fachtexten kennen.

Lesestrategien

Lesestrategien sind auf das Lernen aus und Lesen und Verstehen von Texten ausgerichtete Lernstrategien. Konkret werden Lernstrategien als Prozesse oder Aktivitäten bezeichnet, die eine Person aktiviert und zielführend einsetzt, um ihr Lernen zu beeinflussen, die also auf ein bestimmtes Lern-, Verstehens- oder Behaltensziel ausgerichtet sind (Hasselhorn & Gold 2017). Bei Lesestrategien handelt es sich dementsprechend um spezifische Prozesse und Aktivitäten, die auf das Verstehen von Texten abzielen.
In der lesedidaktischen Forschung werden Lesestrategien konsensuell als mentale Werkzeuge verstanden, die der Planung, Steuerung und dem Verlauf von Textverstehen dienen und das Verstehen und Behalten von Textinformationen erleichtern (z. B. Artelt et al. 2007; Rosebrock & Nix 2020).

Systematisierung von Lesestrategien

Lern- und Lesestrategien sind in der lernpsychologischen und lesedidaktischen Forschung nach je unterschiedlichen Aspekten systematisiert worden (Friedrich & Mandl 2006; Artelt 2000). Die gängigsten Taxonomien, die auch den fachlich profilierten Strategien der am Projekt beteiligten Fächern zugrunde liegen, sind
(1) die Differenzierung nach dem Zeitpunkt des Einsatzes der Lesestrategien (vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen),
(2) die Differenzierung nach der Verarbeitungstiefe, die durch den Einsatz der Strategien erreicht wird (Oberflächen- und Tiefenstrategien),
(3) die Differenzierung nach der Nähe der Strategien zum Verstehensprozess (Primär- und Stützstrategien) (Dansereau 1978) sowie
(4) die Differenzierung nach den spezifischen Funktionen der Strategien im Verstehensprozess (kognitive und metakognitive Strategien) (Weinstein & Meyer 1986).
Einzeln betrachtet bergen die jeweiligen Systematisierungen Unzulänglichkeiten und definitorische Probleme. Außerdem sind sie im Grunde nur idealtypisch voneinander zu unterscheiden. In den fachdidaktischen Modellierungen eines strategiebasierten Zugangs zu Texten werden die verschiedenen Taxonomien meist zusammengedacht.

  • Zeitpunkt

    Die Differenzierung von Strategien nach dem Zeitpunkt ihres Einsatzes im Lese- bzw. Lernprozess basiert auf Modellen der Selbstregulation, in denen der vorbereitenden Phase vor und der reflektierenden Phase nach dem Lernen grundsätzlich eine hohe Bedeutung zugemessen wird (Zimmermann 2000).


    Zeitpunkt
    Vor dem Lesen Während des Lesens Nach dem Lesen
    Ziele Leseziele setzen
    Leseprozess planen
    Vorwissen aktivieren
    Textinhalt erschließen
    mit Verstehensschwierigkeiten umgehen
    Struktur des Textes nachvollziehen
    Textinhalte zusammenfassen
    Textinhalt und Vorgehen reflektieren
    Beispiele

    Bilder und Überschriften beachten
    Vorwissen zum Thema aktivieren
    Fragen an den Text stellen
    Vermutungen über den Inhalt des Textes anstellen
    Leseprozess planen

    Zusammenhänge herstellen
    Verstehensprozess überwachen
    unbekannte Wörter nachschlagen
    Wichtiges unterstreichen
    Randnotizen anfertigen
    Abschnitte einteilen

    Textinhalt grafisch darstellen
    Zusammenfassung schreiben
    eigene Stellungnahme zum Text formulieren
    das eigene Leseverhalten reflektieren

  • Verarbeitungstiefe

    Die Kategorisierung von Strategien nach der Verarbeitungstiefe differenziert die Strategien danach, ob sie sich eher auf Oberflächen- oder Tiefenmerkmale (hierarchieniedrigere oder hierarchiehöhere Prozesse) des Textverstehens beziehen. Im Verstehensprozess spielen beide Ebenen eine gleichermaßen wichtige Rolle.


    Strategie
    Oberflächenstrategien Tiefenstrategien
    Ziele erster (oberflächlicher) Zugang zum Text (auf Wortebene)
    hierarchieniedrige Verstehensprozesse
    tiefes Verstehen
    kritisches Lesen
    hierarchiehöhere Verstehensprozesse
    Beispiele Wörter erlesen
    unbekannte Wörter nachschlagen
    Lesetempo drosseln
    Vorwissen einsetzen
    Zusammenhänge herstellen
    Wichtiges von Unwichtigem differenzieren
     …

  • Nähe zum Verstehensprozess

    Die Differenzierung von Lesestrategien nach ihrer Nähe zum Verstehensprozess unterscheidet Primär- von Stützstrategien. Primärstrategien beziehen sich unmittelbar auf den Lese- und Verstehensprozess, Stützstrategien flankieren den Einsatz von Primärstrategien und unterstützen den Lese- und Verstehensprozess (vgl. Dansereau 1978).


    Strategien Primärstrategien Stützstrategien
    Ziele Elaboration
    Verstehen und Behalten von Textinformation
    Volition
    Motivation
    Konzentration und Aufmerksamkeit
    Beispiele Zusammenhänge herstellen
    Struktur des Textes erfassen
    Wichtiges von Unwichtigem differenzieren
    Verstehensprozess überwachen und regulieren
    Steuerung der Volition, Motivation und Aufmerksamkeit
    Zeit- und Ressourcenmanagement

  • Funktion im Verstehensprozess

    Die Kategorisierung von Strategien nach ihrer Funktion im Verstehensprozess (Weinstein & Meyer, 1986) unterscheidet Strategien danach, welche Aktivität (metakognitive Prozesse, Elaboration, Organisation von Textinhalten) im Verstehensprozess sie unterstützen.


    Strategien kognitive Strategien metakognitive Strategien
    Elaborationsstrategien Organisationsstrategien Wiederholungsstrategien
    Ziele Aufnahme und Verarbeitung von Informationen
    Integration neuer Informationen in das bestehende Wissen
    Strukturierung des Textes Reduktion der Informationen auf das Wesentliche Behalten von Informationen
    Aufrechterhalten von Informationen im Arbeitsgedächtnis
    Planen, Überwachen und Regulieren des Lese- und Verstehensprozesses
    Beispiele Vorwissen aktivieren
    Klärung von Begriffen
    Fragen an den Text stellen
    Skizzen anfertigen
    Wichtiges markieren
    Randnotizen
    grafische Darstellungen
    einzelne Satzteile, Sätze oder Abschnitte wiederholt lesen Leseziel setzen
    Leseprozess planen
    Einsatz der kognitiven Strategien überwachen
    den Lese- und Verstehensprozess überwachen und reflektieren

Eigenschaften von Lesestrategien

Grundsätzlich ist der Einsatz von Lesestrategien (1) zielgerichtet und selektiv, (2) bewusst und kontrolliert und (3) kapazitätsbelastend:

(1) Der Einsatz von Strategien ist immer auf ein spezifisches Ziel ausgerichtet. Aus einem Repertoire an Strategien wählen die Lesenden in Abhängigkeit dieses Ziels (sowie der Beschaffenheit des Textes), diejenigen Strategien aus, die entsprechend der Anforderungen des Textes und ggf. der sich an das Lesen und Verstehen des Textes anschließenden Aufgabe angemessen und zielführend erscheinen.

(2) Wenn Strategien erlernt werden, werden diese zunächst bewusst angewendet. Durch regelmäßige Anwendung, die z. B. durch ein spezifisches Training, das die wiederholte Anwendung der Strategien fokussiert, kann diese aber weitgehend automatisiert werden. Dennoch bleibt der Einsatz von Strategien immer bewusstseinsfähig und damit auch erlern-, steuer- und kontrollierbar.

(3) Je weniger automatisiert der Einsatz von Strategien ist, desto höher ist die kognitive Belastung des Arbeitsgedächtnisses bei der Anwendung von Strategien und desto weniger kognitive Ressourcen stehen dem eigentlichen Textverstehen zur Verfügung. Daher sollte die Anwendung von Strategien nicht nur vermittelt, sondern auch systematisch trainiert werden, so dass die Schülerinnen und Schüler diese möglichst automatisiert anwenden können.