Entscheiden als Zumutung
Unizeitung „wissen|leben“ stellt den SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ vor
Im neuen SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ arbeiteten zahlreiche Wissenschaftler der Universität interdisziplinär zusammen. Vertreten sind die Fächer Geschichte, Literaturwissenschaft, Rechtswissenschaft, Philosophie, Ethnologie, Byzantinistik und Judaistik. Jedes Jahr stehen dem Forschungsverbund rund zwei Millionen Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zur Verfügung. Über die Ziele und Wege des zunächst für vier Jahre bewilligten Sonderforschungsbereiches sprach Juliane Albrecht mit dem Sprecher des SFB, dem Sozial- und Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Ulrich Pfister. Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe der Unizeitung „wissen|leben“ erschienen.
Was werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrer Arbeit über die Kulturen des Entscheidens erforschen?
Die derzeitige Forschung zu Entscheidungen interessiert sich bisher vornehmlich für die Ergebnisse des Entscheidens, die Entscheidungen. Sie verfolgt das Ziel, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie bessere Entscheidungen getroffen werden können. Neu ist, dass wir nicht die Entscheidung, sondern das Entscheiden in den Mittelpunkt rücken.
Was genau ist das Neue daran?
Zunächst verstehen wir Entscheiden als eine Form des sozialen Handelns, als einen interaktiven Prozess, und nicht als einen mentalen Vorgang. Damit hängen zwei wichtige Gedanken zusammen. Erstens: Entscheiden ist eine Zumutung für die am Entscheiden beteiligten Personen. Diese Zumutung hängt damit zusammen, dass beim Entscheiden zunächst mögliche Alternativen entwickelt werden. Am Endpunkt des Entscheidens wird eine Alternative ausgewählt, und alle anderen werden ausgeschieden. Diese Zumutung führt dazu, dass Entscheiden unter einem sehr hohen Legitimationsdruck steht. Wir interessieren uns dafür, wie Gesellschaften in der Vergangenheit und der Gegenwart mit dieser Zumutung umgehen und auf welchen kulturellen Grundlagen – eben Kulturen des Entscheidens – dies beruht. Eine häufig zu beobachtende Möglichkeit kann dabei darin bestehen, Entscheidungen zunächst zu verschieben oder gar überhaupt keine Entscheidung zu treffen. Das zweite wichtige ist, dass Entscheiden aus der Alltagsroutine herausgenommen und institutionalisiert wird, zum Beispiel, wenn die Inhalte der Universitätszeitung in einer eigenen Redaktionssitzung festgelegt werden müssen. Das sind einige Schwerpunkte unseres Forschungsprogramms und die Richtung, in die wir gehen wollen. Wir verstehen dies als eine Form der Grundlagenforschung, die neue und genuin kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Entscheiden eröffnen möchte.
Glauben Sie, dass infolge dessen dann mit den Forschungsergebnissen manche Passage in Geschichtsbüchern neu geschrieben werden muss?
Änderungen in den Geschichtsbüchern wird es wohl nicht geben müssen. Aber bei der Beurteilung langfristiger Vorgänge wird man womöglich genauer sagen können, wie in bestimmten Situationen entschieden wurde und warum bestimmte Entscheidungen getroffen wurden – oder eben gerade auch nicht. Die Frage, warum etwas zu diesem Zeitpunkt so entschieden wurde und später oder früher ganz anders, kann man dann vielleicht besser erklären. Es geht uns aber schon auch darum, Geschichte anders zu beschreiben und zu verstehen, als dies etwa bei der klassischen Politikgeschichte der Fall ist. Diese geht ja von getroffenen Entscheidungen als historischen Ereignissen aus und fragt nach deren Zustandekommen und den Folgen sowie danach, warum dieser oder jener Politiker diese oder jene Entscheidung gefällt hat. Wir dagegen interessieren uns aber gerade auch für solche Fälle von Entscheiden, bei denen gar keine Entscheidung getroffen wurde. Meiner Beobachtung nach dürfte das wohl sogar die große Mehrheit sein.