(D10) Zwischen Unterstützung autoritärer Regime und Verteidigung der Menschenrechte. Die katholische Kirche in Chile und Argentinien während der Militärdiktaturen der 1970er und 1980er Jahre
Wird staatlich verübte Gewalt mit religiös begründeten Werten legitimiert, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat, von Religion und Gewalt. Die katholische Kirche befand sich in Lateinamerika seit den 1960ern bis in die 1980er in vielen Ländern im Spannungsverhältnis zwischen traditioneller Unterstützung der Obrigkeit und der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen. Während die chilenische Kirche zur wichtigen Säule der Opposition gegen die Militärjunta aufstieg, unterstützte die Kirchenhierarchie in Argentinien die Militärdiktatur. Ein Vergleich beider Kirchen als soziale Beziehungsgeflechte soll Auskunft darüber geben, warum eine dem Frieden verpflichtete Religionsgemeinschaft in dem einen Fall dieses Ziel verteidigte, es im anderen zugunsten anderer Werte missachtete.
In der Literatur steht bei der Frage nach der Haltung der Kirche gegenüber den Militärregimen in der Regel die Kirchenhierarchie im Mittelpunkt. Die geplante Studie geht hingegen davon aus, dass diese nicht unabhängig von Aushandlungsprozessen innerhalb der Institution handeln konnte. Einfluss auf das Handeln des Episkopats nahmen sowohl der einfache Klerus, Ordensgeistliche sowie Laien als auch transnationale kirchliche Einrichtungen und der Vatikan. In Chile wandte sich die Kirchenhierarchie nicht von Beginn der Diktatur an klar gegen das Regime. Die eindeutige Position gegen die Menschenrechtsverletzungen musste sich erst herausbilden. Die vergleichsweise demokratischen Strukturen in der chilenischen Kirche, die seit der strikten Trennung vom Staat in den 1920er Jahren entstanden waren, dürften hier ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Erfolge der Reformbestrebungen in der Kirche seit den 1960er Jahren (Zweites Vatikanisches Konzil, Befreiungstheologie, Basisgemeinden). In Argentinien propagierte das Militär die Verteidigung der katholischen Nation und konnte auf die Unterstützung der Kirchenhierarchie zählen, mit der schon zuvor enge Verbindungen bestanden hatten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in der Kirche keine Opposition gegen die Diktatur gab. Hier stellt sich daher die Frage, wie stark sie war und welche Strukturen ihre Einflussnahme verhinderten. Für beide Fälle ist zudem nach der Rolle des Vatikans, transnationaler Organisationen wie der lateinamerikanischen Bischofskonferenz und Zusammenschlüssen von Laienorganisationen zu fragen.
Während der bisherigen Projektphase wurde eine Vielzahl von Faktoren für das unterschiedliche Verhalten der chilenischen und argentinischen Kirche gegenüber der Militärdiktatur ermittelt, wobei diverse Akteursebenen in die Untersuchung einbezogen wurden. Auf der Ebene des Episkopats scheinen nicht nur die persönliche Haltung von führenden Kirchenvertretern und die unterschiedliche hierarchische Position von Regimegegnern und -befürwortern innerhalb der Bischofskonferenzen von Argentinien und Chile ausschlaggebend für die offizielle Haltung der Bischöfe, sondern in erster Linie der theologische Diskurs in Bezug auf die Gewalt und die Menschenrechtsverbrechen. Hier zeigen sich unterschiedliche Traditionsstränge in Chile und Argentinien. Während beide Bischofskonferenzen zu Beginn den Militärregimen durchaus positiv gegenüberstanden, argumentierten die chilenischen Bischöfe unmittelbar theologisch gegen die Repression der Pinochetherrschaft. Diese theologische Positionierung zur Achtung der Würde des Menschen sollte in der Folge immer stärker das Engagement der chilenischen Bischöfe für die Opfer der Diktatur bestimmen. In Argentinien hingegen überließen die Bischöfe das Feld der religiösen Gewaltlegitimation der Militärführung und stellten sich mit eher politischen Argumenten an die Seite der Junta.
Diese Haltung wurde jeweils gefördert durch den Einfluss des „niederen Klerus“ und von Laiengruppen. So diente das argentinische Militärvikariat als Keimzelle der religiösen Gewaltlegitimation, während das chilenische Pendant in Bezug auf die theologische Legitimierung von Gewalt wesentlich vorsichtiger argumentierte. Die unterschiedliche strukturelle Positionierung des Militärvikariats im Grenzbereich zwischen Kirche und Militär, zwischen Religion und Politik, sollte dabei ebenso entscheidend sein wie die unterschiedliche Legitimationsnotwendigkeit der Militärregime. In Chile musste in erster Linie der Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Salvador Allende gerechtfertigt werden, die religiösen Legitimationsmuster galten also dem militärischen Eingreifen, die anschließende Gewalt rückte dabei im Diskurs der Kaplane etwas in den Hintergrund. In Argentinien hingegen waren Militärregierungen im 20. Jahrhundert an der Tagesordnung, hier musste nicht das Regime an sich, sondern vor allem die brutale Repression religiös legitimiert werden.
Angehörige des niederen Klerus hatten außerdem bereits vor der Machtergreifung der Militärs in beiden Ländern eine wichtige Rolle in den politischen Auseinandersetzungen um soziale Ungleichheiten gespielt. So entstanden in beiden Ländern Priestervereinigungen, die das II. Vatikanische Konzil aufgriffen und sich der befreiungstheologischen „Option für die Armen“ anschlossen. Ein Teil dieser Priester befürwortete sogar den gewaltsamen Kampf gegen die als strukturelle Gewalt verstandenen sozialen Verhältnisse. Während die Priestervereinigung in Argentinien vom Beginn ihrer Gründung an im Widerspruch zum Episkopat stand, war dies nicht in der gleichen Eindeutigkeit in Chile der Fall. Physische Gewaltanwendung lehnte das chilenische Episkopat allerdings von allen Seiten ab. Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen dürften zur Radikalisierung der Haltung des argentinischen Episkopats beigetragen haben.
Großen Einfluss besaßen auch Ordensgemeinschaften und katholische Laiengruppen. Im Rahmen der „katholischen Nation“ Argentinien bestimmten erzkonservative integralistische Gruppierungen wie die Ciudad Católica oder Tradición, Familia y Propiedad (TFP) die Denkmuster religiöser Gewaltlegitimation des Militärs und wiesen dabei eine große Nähe zu einflussreichen Bischöfen auf. In Chile hingegen kam besonders dem Jesuitenorden großer Einfluss auf die Haltung der Kirchenhierarchie zu. Die Jesuiten hatten die Auswirkungen des II. Vatikanischen Konzils und der Befreiungstheologie rezipiert und setzten sich in Chile für die „Option für die Armen“ und die Befreiung von der Unterdrückung ein. Gerade in der unterschiedlichen Aufnahme der innerkirchlichen Wandlungen nach dem II. Vatikanischen Konzil lässt sich ein weiterer Faktor für die unterschiedliche Position der Kirchen zur Militärdiktatur ausmachen.
Deutlich wurde in der bisherigen Projektarbeit, dass die unterschiedliche Haltung der katholischen Landeskirchen gegenüber den Menschenrechtsverletzungen in den letzten Diktaturen in Argentinien und Chile zu einem großen Teil wohl auch mit langfristig entwickelten, teilweise strukturellen Unterschieden zwischen den beiden Landeskirchen und ihrem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft erklärt werden müssen.
Als ein weiterer Aspekt der Projektarbeit wird die kirchliche Solidaritätsarbeit zwischen Deutschland und Chile in den Blick genommen. Hier liegt der Schwerpunkt auf der Solidarität mit den chilenischen Opfern der Militärdiktatur in Münster. Zu diesem Thema wird am 4. November 2011 in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Münster eine Ausstellung mit dem Titel „Chile Solidarität in Münster. Für die Opfer der Militärdiktatur, 1973-1989“ eröffnet, die bis zum 18. März 2012 zu sehen sein wird. Im Rahmen der Ausstellung wird eine wissenschaftliche Tagung stattfinden, auf der Fragen nach der politischen Entwicklung in Chile, der Haltung der katholischen Kirche und der Bedeutung der Solidaritätsarbeit in Münster nachgegangen werden.
Folgende Veranstaltungen haben bereits stattgefunden:
- Vom 19. - 21. Mai 2010 fand die internationale Tagung "Katholische Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert" statt, die zusammen mit Projekt D9 "Der Vatikan und die Legitimation physischer Gewalt. Das Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939)" organisiert wurde. Der Tagungsband ist in Vorbereitung
Vorträge der Projektmitarbeiterinnen und -arbeiter:
Silke Hensel:
- Mai 2010: Religion, Politik und Gewalt in Argentinien und Chile. Die Priestervereinigungen Movimiento de Sacerdotes para el Tercer Mundo und Cristianos por el Socialismo, Vortrag auf der Tagung „Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert“, Tagung des Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der WWU Münster, Mai 2010.
- Okt. 2009: Unterstützung „Nationaler Sicherheit“ oder Verteidigung der Menschenrechte? Die Rolle der katholischen Kirche in den Militärdiktaturen Chiles und Argentiniens, 1970-1990, 06.10.2009 im Forschungskolloquium im Rahmen der Geschichtswoche, Fernuniversität Hagen.
Stephan Ruderer:
- Juni 2011: Mit der Hilfe Gottes? Die Militärdiktaturen in Argentinien und Chile und die katholische Kirche, 28.06. 2011, Ringvorlesung „Religion und Gewalt“, Exzellenzcluster „Religion und Politik“, WWU Münster.
- Oktober 2010: Entre religión y política. El vicariato castrense en las últimas dictaduras de Chile y Argentina, 07.10. 2010, LASA-Tagung 2010, Toronto, Kanada.
- Mai 2010: „Der Kaplan soll uns sagen, dass unser Kampf ein Kreuzzug ist.” – Das Militärvikariat und die Diktatur in Argentinien, 20.05. 2010, Tagung „Katholische Kirche und Gewalt im 20. Jahrhundert“, Exzellenzcluster 212, WWU Münster.
- Nov. 2009: Religión y violencia en Argentina y Chile, 05.11. 2009, Programa de Historia de la Iglesia en la Argentina Contemporánea, Universidad Católica de Buenos Aires.
- Oktober 2009: Religión y violencia en Argentina y Chile. Una cuestión de legitimación, 29.10. 2009, Tagung “XII Jornadas Interescuelas Departamentos de Historia” [Argentinischer Historikertag], Bariloche.
- Juni 2009: Presentación proyecto D10, 24.06.2009, Tagung “Primeras Jornadas de Religión y Sociedad en la Argentina Contemporánea y Países del Cono Sur”, RELIGAR-Sur, Buenos Aires.
Barbara Rupflin:
- Juni 2011: Religion and Religious Actors and Chile Solidarity, am 02.06.2011 auf der “International History Conference – European Solidarity with Chile (1970s-1980s)” an der Katholischen Universität Löwen (Belgien).
- Mai 2011: Zwischen ‚katholischer Nation‘ und ‚authentischem Christentum‘ – Gegendiskurse und Handlungsstrategien verfolgter Katholiken unter der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983), am 14.5.2011 auf dem 9. Potsdamer Doktorandenforum: „Gesellschaften in Diktaturen des 20. Jahrhunderts – Kulturen, Alltagspraxen, Semantiken“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF).
- Februar 2010: En defensa de la sociedad civil – La Iglesia de Neuquén durante la última dictadura militar, am 08.2.2010 im Rahmen der Forschergruppe “Sociedad, Cultura y Religión” des Ceil-Piette, CONICET, in Buenos Aires (Argentinien).
- September 2009: Die Chile-Solidarität der Katholischen Studentengemeinde Münster im Spannungsfeld zwischen linksalternativem und traditionell katholischem Milieu, am 18.9.2009 auf der Tagung „Linksalternatives Milieu und dessen (Selbst)Inszenierung“ an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.