(B13) Autorisierung, Legitimierung und Wissensvermittlung in der neulateinischen Literatur

Die neulateinische Literatur stellt für die Fragen der Autorisierung, Legitimierung und Wissensvermittlung ein reiches und noch wenig erforschtes Feld dar. Wir haben einen extrem reichen Wissensspeicher vor uns, der in der Zeit zwischen 1300 und 1650 ganz verschiedene Bereiche des intellektuellen, politischen, religiösen und praktischen Lebens wesentlich mitgestaltete und ein breites Spektrum an Textgattungen, vom lyrischen Gedicht bis zur fachtechnischen Abhandlung, vom Epos bis zum Diplomatenbericht, von der Studentensatire bis zur Weltchronik, von der Schulgrammatik bis zum philosophischen Dialog, von der Elegie bis zum Kriegsbericht, vom Privatbrief bis zur Stadtchronik, von der politischen Rede bis zur privaten Tagebuchnotiz, von auf Zetteln lose dahingeworfenen Aufzeichnungen bis zum Klassikerkommentar, vom archäologischen Handbuch bis zum täglichen Gebet reicht.

Das Projekt nimmt das Präsentationsinstrumentarium, mit dem diese Literatur ausgestattet wurde, und die Strategien, die angewendet wurden, um den Übertragungsakt erfolgreich zu gestalten, in den Blick. Besonderes Interesse besitzen dabei die Konstruktionen und Konstituierungen von Autorschaft. Die eingehende Diskussion, die um den Begriff des Autors geführt wurde, nachdem die französischen Poststrukturalisten Roland Barthes und Michel Foucault den „Tod des Autors“ verkündet hatten, hat in der neulateinischen Forschung kaum Widerhall gefunden. Die Strategien, mit denen Texte autorisiert wurden, sind noch weitgehend unerforscht. Gerade die Periode des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit besitzt für Fragen der Wissensvermittlung höchstes Interesse, weil sie auf wichtigen Gebieten eine Umbruchszeit darstellt, z.B. in Religion, Politik, in der Organisation des intellektuellen Lebens, im Hinblick auf das geographische Weltbild, die Kulturperzeption, die soziale Ordnung, Philosophie, nicht zuletzt auch die verwendeten Medien. Nahezu alles scheint einem eingehenden Veränderungsprozess unterworfen zu sein.

Im intellektuellen Leben ergreifen neue Gruppierungen das Wort, was zu einer ungleich stärkeren Differenzierung und heftigen, immer wieder aufflackernden Konkurrenzkämpfen führt; in der Religion kommt es ab dem 14. Jahrhundert zu einem Reformwettlauf, der im 16. Jahrhundert auf eine permanente Spaltung in diverse Konfessionen hinausläuft; das geographische Weltbild bekommt durch die Entdeckung eines neuen Erdteils ein anderes Aussehen; die Philosophie ist sowohl in der Scholastik mit dem Nominalismus, im Humanismus mit der Wiederentdeckung antiker Philosophenschulen, vor allem des Platonismus und der Neustoa, in der Mystik, etwa mit Meister Eckhart und Seuse, im okkulten Bereich etwa mit der Wiederentdeckung der Kabbala als auch im naturwissenschaftlichen Bereich mit der Entdeckung des mechanischen Weltbildes durch Descartes einem umfassenden Veränderungsprozess unterworfen; nicht zuletzt sind alle diese Spaltungen und Differenzierung mit einer neuen Mediensituation verbunden, die durch die Erfindung des gedruckten Buchs im 15. Jahrhundert auftritt und die gesamte Periode als Übergangszeit von der handschriftlichen zur gedruckten Wissensvermittlung kennzeichnet.

Die tiefgreifenden Veränderungen zwischen 1300 und 1650 bringen mit sich, dass die Legitimierung, Autorisierung und Wissensvermittlung in diesem Zeitraum verstärkter Aufmerksamkeit bedurften und dass man eine Reihe von Strategien entwickeln musste, um diese Prozesse erfolgreich und effizient zu gestalten. Diese Strategien beziehen sich auf verschiedene Bereiche: auf die Autobiographik und Biographik, die paratextuelle Ausgestaltung, die Buchillustration, Kanonbildung und diverse textuelle legitimierende Formationen (z.B. Mythologie).

Buchprojekt Prof. Dr. Karl Enenkel: Die Stiftung von Autorschaft in der neulateinischen Literatur (ca. 1350 - ca. 1650). Zur autorisierenden und wissensvermittelnden Funktion von Widmungen, Vorworttexten, Autorporträts und Dedikationsbildern

  • Monographie: K. Enenkel, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin-New York 2008.
  • K. Enenkel - W. Melion (Hrsg.), Meditatio - Refashioning of the Self. Theory and Practice in Late Medieval and Early Modern Intellectual Culture, Intersections. 17 (2011), Brill, Leiden-Boston.
  • Celeste Brusati - K.A.E. Enenkel - W. Melion (Hrsg.), The Authority of the Word: Reflecting on Image and Text in Northern Europe, 1400-1700, Brill, Leiden-Boston 2011 (im Druck).
  • K. Enenkel, "Die Neulateinische Autobiographik. Ein Versuch zur Methode ihrer Interpretation", Acta Conventus Neo-Latini Budapestiensis. Proceedings of the Thirteenth International Congress of Neo-Latin Studies, Budapest, August 6-12 2006, hrsg. von Rhoda Schnur, Joaquin Pascual Barea, Karl Enenkel, Amedeo di Francesco, David Mooney, Colette Nativel, Howard B. Norland, László Szörényi, Tempe, Arizona 2010 (Medieval and Renaissance Texts and Studies vol. 386), 53-77.
  • Tagung: Karl Enenkel - Claus Zittel (Organisatoren), Tagung Vita als Wissenschaftssteuerung. Frühnneuzeitliche Biographien von Wissenschaftlern, Philosophen und Künstlern (Programm)
  • K. Enenkel, Vortrag: "Beatus Rhenanus' Erasmus-Biographie als Vermittlungstext der Opera omnia"


Autorschaft in der posthumanistischen lateinischen Musterprosa, Ende 16. bis Ende 18. Jahrhundert (Dr. Dr. Oleg Nikitinski)

Das Projekt macht es sich zur Aufgabe, nach der Neustrukturierung von Öffentlichkeit in der posthumanistischen Zeit, die besondere Rolle der sprachlichen Autorität im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Öffentlichkeit und autoritärem Anspruch des puristisch ausgerichteten Autors zu untersuchen. Als erster Schritt soll eine repräsentative sprachliche Dokumentation der stilistischen "Klassiker" neulateinischer Prosa in Form eines Wörterbuchs unternommen werden.

Behandelt werden vor allem solche Meister lateinischer Prosa der Neuzeit (Ende 16. bis Ende 18. Jahrhundert), welche aus der Sicht der lateinischen Sprachpflege eine Vorbildfunktion hatten. Sie sind z.T. schon in die zeitgenossischen Chrestomathien neulateinischer Prosa als Musterautoren eingegangen. Diese Autoren sind z.B. in folgenden Autorschaftsmodelle wichtig: Autor als Sprachzügel und Autor als "literarisches Gewissen der Nation" bzw. der res publica litteraria (z.B. der "Cicero Germanorum" Johann August Ernesti). Da diese Autoren bestrebt sind, auch andere Diskursfelder (Religion, Politik, Wissenschaft etc.) aus der Sicht der Sprachpflege und der neustrukturierten Auffasung der humanitas auf vorbildliche Weise zu behandeln, wirkten sie als autoritativ.

Einige der behandelten Autoren, wie Pierre-Daniel Huet und Samuel Parr, übten außer ihrer Rolle als literarische Autorität auch einen direkten Einfluss auf das öffentliche Leben, indem sie selbst bedeutende Theologen oder Politiker waren. Aus dieser doppelten Rolle ergibt sich eine besondere Art der Autorschaft. Solche Autoren treten nicht nur mit literarischen Produkten von politischer, religiöser u.a. Programmatik hervor, sondern erheben auch einen Anspruch auf die exemplarische -und zwar nicht nur rhetorische, sondern auch fachliche - Behandlung ihrer Gegenstände. Dies geschieht z.B. auch in der Auseinandersetzung zwischen Vertretern der humanitas elegantior und Cartesianern: die ersteren (z.B. Huet) waren durchaus auf der Seite der exakten Wissenschaften, meinten aber, dass die Gegner, indem sie die humanistische Tradition nicht beherrschen, selbst der Inexaktheit verfallen (z.B. wenn Descartes behauptet, dass Latein die Sprache der Jesuiten sei: "j'écris en français, qui est la langue de mon pays, plutôt qu'en latin, qui est celle de mes précepteurs" Discours de la Méthode, VI. Der Fehler besteht darin, dass man die Existenz einer Tradition verneint, nur weil man sie nicht braucht).

Aus der Sicht der gelehrten Philologen und Theologen des 18. Jahrhunderts, welche gleichzeitig als führende Autoritäten in der res publica litteraria und als Meister lateinischer Prosa anerkannt wurden (wie Johann Matthias Gesner, Johann August Ernesti, David Ruhnkenius) wird die Zeit um 1600 bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts als aetas politica (welche mit solchen Autoren wie Johann Heinrich Böckler, Konrad Samuel Schurzfleisch und Samuel Pufendorf assoziiert wurde) bezeichnet und im Sinne der am Ende des 17. Jahrhunderts vollzogener Wende (als Galionsfiguren dieser Wende galten Johann Friedrich Gronovius und Johann Georg Graevius) kritisiert. Diese Kritik beruht auf einer abwertenden Schätzung der öffentlichen Rolle der Autoren der aetas politica und bezieht sich auch auf deren fehlerhaftes Latein und mangelnden Sinn für die historische und philologische Kritik. Auch in einem anderen Sinne beschränkt die Wirkung der behandelten Autoren nicht nur auf die ausschließlich lateinbezogenen Inszenierungen.

Entgegen der geläufigen Ansicht, dass die lateinischen Autoren der Neuzeit Gegner der Nationalsprachen waren, wird dargelegt, dass gerade bei den führenden lateinischen Autoren dies nicht der Fall war. Die positive Haltung gegenüber den Nationalsprachen setzte zwar eine schon in der humanistischen Tradition des. 14. bis 16. Jahrhunderts vorhandene Richtung fort. Überdies wurde die neue, im 19. Jahrhundert leider verschwundene Ansicht vertreten, dass das Latein wie die nationalen Sprachen hermeneutisch unterschiedliche, aber gleichberechtigte Instrumente seien. Als Beispiel möge J. A. Ernesti (vgl. o. das Autorschaftsmodell: Autor als "literarisches Gewissen der Nation") angeführt werden. In seiner Polemik gegen Christian Thomasius meinte er, dass Thomasius lieber ganz auf Latein verzichten sollte: besser schreibe man leidiges Deutsch als schlechtes Latein.

Zur Aktualität des Themas: Die neuzeitlichen Vertreter der Reinheit und Schönheit lateinischer Prosa seit Ende des 16. Jahrhunderts fügen sich als scheinbar rückwärts-gewandte Gelehrte nicht in die Modernisierungsprozesse. Ihre Werke wurden mit der nationalphilologischen Wende nicht mehr rezipiert. Doch basiert das auf einem ungeprüften Vorurteil aus Unkenntnis der Schriften. Die Auseinandersetzung mit diesen Autoren ist auch aus der Sicht der vielfältigen späteren Inszenierungen von Autorschaft von Bedeutung, weil erst im Widerstreit der zeitgenossischen Meinungen Neuansätze angemessen profiliert werden können und auch die Verluste, die mit solchen Neuansätzen meist verbunden sind, abschätzbar werden.

Dissertationsprojekt : Mythologie und Politik im neulateinischen Epos (Christian Peters)

Unter dem Gesichtspunkt von Legitimierung und Autorisierung durch Mythologie als textuelle Formation widmet sich das Dissertationsvorhaben von Christian Peters der lateinischen Epik panegyrisch-zeitgeschichtlichen Zuschnitts vor allem im Italien des 15. Jahrhunderts. Wenn sich in dort leidlich bedeutsame Herrscherfiguren aufgrund ihres Wirkens in teils zweitrangigen Konflikten der Zeit zu Günstlingen des olympischen Pantheons und Zivilisationsheroen vom Zuschnitt eines Aeneas stilisieren ließen, so mag dies prima facie als eine unbeholfen-manierierte Hypertrophierung mit eigentlich Sachfremdem erscheinen - und ist so auch von der Forschung bislang überwiegend beurteilt worden. Untersucht man diese Texte jedoch im Hinblick auf das schwierige Spannungsfeldes von historischer Realität, literarischem Ausdruckswillen und dem rezeptionsgeschichtlichen Rückgriff auf antike Modelle sowie den Erfordernissen der panegyrischen Situation, in dem sich ihre Autoren platzieren mussten, so entwickeln die Werke nicht nur eine zuvor nicht erkannte Kohärenz, sondern können auch einen Einblick darin gewähren, wie sich der Mythenschatz der griechisch-römischen Welt als literarisches Erbe, das von der humanistischen Antikenbegeisterung in den Mittelpunkt kulturellen Schaffens gerückt wurde, auch zu ganz konkreten, tagespolitischen oder ideologischen Zwecken funktionalisieren ließ.

Die untersuchten Epen, die am Anfang einer reichen Tradition dieser literarischen Eigenart stehen, die bis in das 18. Jahrhundert reichen sollte, bilden dabei Kristallisationskerne, an denen sichtbar wird, wie sich Aspekte aus Politik, Gelehrsamkeit, Literatur und den bildenden Künsten unter Rückgriff auf das mythologische Repertoire einer abgeschlossenen Antike nicht nur als Motive literarischer Fiktion, sondern eben auch in ihrer - anachronistischen - kultisch-religiösen Tragweite gegenseitig bedingen und beeinflussen konnten, um legitimationsstiftend zu wirken.

Ausführliche Projektbeschreibung