Das Projekt untersucht anhand der offiziellen Kategorie der „Neugetauften“ den Zusammenhang von imperialer Herrschaft, religiöser Zuschreibung und Konzepten kollektiver Identität im Zarenreich des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Den Kern bilden Studien zu drei ausgewählten Dörfern von „Neugetauften“, die vor ihrer Zwangschristianisierung dem muslimischen, buddhistischen und schamanistischen Glauben anhingen.
Mit dem Projekt verbindet sich das Ziel, die für die Imperiumsforschung grundlegende Frage nach dem Spannungsverhältnis aufzuarbeiten, wie Imperien einerseits bestrebt waren, reichsweit eine größere Einheitlichkeit herzustellen und, wie in diesem Fall, die Religion für Zivilisierungsmissionen nutzten, andererseits aber aus kolonialen Gründen mit Kategorien wie den „Neugetauften“ Differenzen zur dominanten Ethnie aufrechterhielten und damit möglicherweise Anstöße für religiös wieder divergierende Tendenzen gaben.
Darüber hinaus lassen sich von dem Projekt Erkenntnisse darüber erwarten, inwiefern Unterschiede zwischen „Neugetauften“ je nach ihrer vorherigen Zugehörigkeit zum Islam, zum Buddhismus oder Schamanismus dazu beitrugen, ihre Integration in die russisch-orthodoxe geprägte Mehrheitsgesellschaft zu befördern oder zu behindern. Welche Rolle spielte die vorherige religiöse Zugehörigkeit für die Integrationsbereitschaft und welche Rolle spielten hierbei die in den jeweiligen Religionen verbliebenen anderen Mitglieder der ethnischen Gruppen der „Neugetauften“?
Schließlich ist es ein Ziel des Projekts, der Frage nachzugehen, wie nachhaltig und wirkungsvoll sich die imperial gesteuerte Perpetuierung von Differenz trotz des allgemeinen Bestrebens nach mehr Einheitlichkeit gestaltete und inwiefern gerade diese Politik Entwürfe eigener kollektiver Identität unter den verschieden geprägten Gruppen von „Neugetauften“ beförderte und einen „Rückfall“ in vorherige Religionszugehörigkeiten begünstigte. Der Einblick in den Umgang des orthodoxen Zarenreiches mit religiöser Andersartigkeit und in die Reaktionen der Angehörigen von ehemals verschiedenen Religionsgemeinschaften erlaubt es, das Russländische Reich aus seinem Nischendasein in der allgemeinen Imperiumshistoriographie herauszuholen und es für die vergleichende und transnationale Forschung zum Themenfeld von Zivilisierungspolitik, Kolonialismus und religiöser Vielfalt zu öffnen.