Die Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reiches war von Pluralitäten, Uneindeutigkeiten und Konflikten gekennzeichnet, die sich im Rahmen der Konfessionalisierung vor allem in protestantischen Territorien verschärften. In der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe wurden nach der Einführung zunächst des lutherischen, schließlich des reformierten Bekenntnisses neue polizeiliche und kirchliche Verordnungen erlassen, die lokalen Rechtsgewohnheiten, partikularen Statuten, gemeinrechtlichen Traditionen und soziokulturellen Ordnungsvorstellungen grundlegend widersprechen konnten. Besonders deutlich tritt die Pluralität und Widersprüchlichkeit von Normen bei Verfahren der Eheschließung hervor: Je nach tradierter Norm, religiösem Gebot oder landesherrlich erlassenem Gesetz konnte(n) entweder das Einvernehmen der Brautleute, der Beischlaf (copula carnalis), der Elternkonsens, die öffentliche Zeugenschaft und/oder die priesterliche Einsegnung eine ehestiftende Wirkung entfalten. Die Vielfalt ehebezogener Normen führte vor allem dann zu Konflikten, wenn sie widersprüchliche Handlungserwartungen hervorrief und Sanktionsbedürfnisse nach sich zog. Welche Normen unter welchen Bedingungen Gültigkeit besaßen und welche nicht, blieb im 17. Jahrhundert daher abhängig von Verhandlungen, die auch und vor allem vor Gericht geführt wurden.
Vor dem Hintergrund neuerer Forschungsansätze, die sich insbesondere mit Phänomenen der „Normenkonkurrenz“ (Hillard von Thiessen) und der „normativen Ambiguität“ (Thomas Bauer) auseinandersetzen, wird die Untersuchung die formalen und informalen Normen insbesondere der Eheanbahnung, der Eheschließung und der Ehetrennung durchleuchten sowie die verschiedenen Institutionen, Akteure und Verfahren in den Blick nehmen, die für die Regulierung von Ehekonflikten zuständig waren. Ein besonderer Schwerpunkt wird darüber hinaus auf der Frage liegen, wie die Zeitgenossen mit der Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Ehenormen umgingen und welche übergreifende Funktion der Pluralität und Konkurrenz von Normen für die Entwicklung des vormodernen Staates zugesprochen werden kann. Die Arbeit schließt an die Ergebnisse des Projekts A2-5 an, die in der zweiten Förderphase erzielt wurden.