„In bitterer Not wende ich mich an Eure Heiligkeit.“
Interview mit Prof. Dr. Hubert Wolf über Methoden der Digital Humanities im Forschungsprojekt „Asking the Pope for Help“
Das Projekt „Asking the Pope for Help“ arbeitet alle Bittschreiben jüdischer Menschen während der Shoah auf, die diese in ihrer Not an Papst Pius XII. und die Kirche gerichtet haben. Neben diesen Petitionen werden auch die zu den jeweiligen „Fällen“ gehörenden Dokumente in den vatikanischen Archiven ediert und später umfangreiches didaktisches Begleitmaterial angeboten. Im Vortrag wird anhand von einigen Beispielen illustriert, wie Datenbank und Webapp des Projekts funktionieren und welche DH-Methoden zur Anwendung kommen, ohne die ein solches Projekt nicht zu realisieren wäre.
Was ist der Gegenstand Ihres DH-Projektes am Exzellenzcluster, und welche Frage soll es mittels DH-Methoden beantworten?
Rund 15.000 jüdische Menschen aus ganz Europa haben während des NS-Regimes Papst Pius XII. und den Vatikan um Hilfe gebeten. Sie schrieben vorwiegend auf Italienisch, Deutsch und Französisch, aber auch in nahezu allen anderen europäischen Sprachen. In hochemotionalen Ego-Dokumenten schildern die Menschen ihre Lebensgeschichte, ihre Not und das ihnen angetane Leid, aber auch ihre Handlungsspielräume während der Shoah. Ihre Briefe waren bisher unbekannt und liegen in den Akten aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939-1958) in verschiedenen vatikanischen Archiven. In einem von der Stiftung ‚Erinnerung, Verantwortung und Zukunft‘ (EVZ) geförderten Projekt werden die bis jetzt bekannten rund 6.000 Bittschreiben und die dort erwähnten 15.000 Personen identifiziert und in einer digitalen Edition open access zugänglich gemacht (https://www.uni-muenster.de/FB2/aph/index.html). Bisher sind circa 2.000 Bittschreiben erfasst, die ab Mitte 2024 unter www.askingthepopeforhelp.de zur Verfügung stehen werden. Im Rahmen eines Teilprojekts am Exzellenzcluster werden die Bittschreiben und die dazugehörige Korrespondenz aus Rumänien und Brasilien unter besonderen Fragestellungen untersucht.
Da in den Briefen die gesamte Vielfalt des „Jüdisch-Seins“ der damaligen Zeit deutlich wird, werden wir uns außerdem auf die Zugehörigkeiten der Bittsteller im Sinne des Forschungsparadigmas ‚Belonging‘ fokussieren. So waren einige jüdisch-stämmige Menschen getauft und verstanden sich vorrangig als Katholiken, andere bekannten sich ausdrücklich zum Faschismus und wurden dennoch als Juden verfolgt. Diese Selbst- und Fremdbeschreibungen, die aus den Dokumenten deutlich werden, werden wir mittels Methoden der Digital Humanities analysieren und zueinander in Beziehung setzen.
Mit DH-Methoden werden wir nicht nur eine, sondern eine Fülle von Fragen beantworten können. Das fängt ganz klein an: Wie viele Briefe gibt es? Welche Briefe wurden beantwortet und welche einfach abgelegt, ohne dass etwas unternommen wurde? Welche Briefe wurden dem Papst vorgelegt und wie viele? … Und es geht groß weiter: Wie vielen jüdischen Menschen half der Heilige Stuhl zwischen 1939 und 1945? Wie half er? Aus welchen Ländern kamen die Menschen, waren alle getauft? Fühlten die Menschen sich als Juden oder als Katholiken? Welche Emigrationsrouten nutzten sie während ihrer Flucht? Kurz: Durch diese Dokumente erfahren wir Neues zur Haltung Pius’ XII. zum Holocaust sowie zur Organisation und Funktionsweise der Römischen Kurie. Wir vollziehen dabei mit dem Projekt einen Paradigmenwechsel weg vom Papst, der in seinen Handlungsmöglichkeiten von den Vorarbeiten seiner Mitarbeiter abhängig war, hin zu den Entscheidungsfindungsprozessen in der Kurie und den involvierten Orden.
Wie sehen die DH-Methoden konkret aus, wenn Sie sie in Ihrem Projekt anwenden?
Unsere digitale Projektinfrastruktur funktioniert wie eine kleine Fabrik: Die Eingangstür ist die Software Oxygen, in die wir die in den Archiven gefundenen Dokumente in der Auszeichnungssprache XML eingeben. Dabei nutzen wir den TEI-Standard als allgemeinen Rahmen, der jedoch an die projekteigenen Bedürfnisse angepasst werden musste. Als Grundlage diente uns das Softwarepaket ediarum, ein Projekt der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, das unter anderem vorgefertigte TEI-konforme XML-Strukturen für Briefe bereitstellt. Mit diesem Werkzeug können wir zum Beispiel einzelne Begriffe wie ‚Jude‘ aus dem Bittschreiben mit eigenen Analysekategorien versehen.
Der in ediarum enthaltene Autorenmodus für Oxygen ermöglicht es uns, die oft verwirrend erscheinende Code-Ansicht der XML-Dateien zu verlassen, die Dokumente in einer übersichtlichen Word-ähnlichen Ansicht abzuschreiben und Auszeichnungen von Personen, Orten und Analysekategorien teilautomatisiert vorzunehmen. Die Fehleranfälligkeit wird hierdurch enorm reduziert.
Die in Oxygen erstellten und bearbeiteten Dateien werden schließlich in unserer Datenbank gespeichert. Für dieses sogenannte Backend-System, also die hinter allem stehende Technik, können wir zum größten Teil auf offen zugängliche Software (wie eXist) zurückgreifen. Mit ihrer Hilfe können wir beispielsweise automatisiert eigene Register für Einzelpersonen oder Orte erstellen.
Darüber hinaus stellt ediarum eine Programmierschnittstelle, API genannt, bereit. Diese ermöglicht die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Programmen. Dazu wandelt eXist die Daten in ein programmiersprachenunabhängiges und international standardisiertes Format um. Nun können wir diese Daten weiterverarbeiten und mit ihnen komplexe Statistiken erstellen oder Orte, die in den Dokumenten genannt werden, auf Landkarten anzeigen lassen und somit Fluchtrouten einer oder mehrerer Personen oder Personennetzwerke visualisieren.
Hier endet für uns allerdings die Unterstützung durch ediarum. Denn während ediarum auch für die Webseite weiterhin X-Technologien verwendet, verzichten wir vollständig darauf. Das liegt vor allem daran, dass diese nahezu ausschließlich in der geisteswissenschaftlichen Forschung genutzt werden, in der restlichen IT-Fachwelt aber eine Randerscheinung darstellen, weshalb wir auf gängigere Programmiersprachen setzen. Diese Vorgehensweise bietet den großen Vorteil, dass der Softwarekonzern SAP, der Partner bei der Entwicklung ist, das Projektteam bei Bedarf auch inhaltlich unterstützen kann.
Wie werden oder wurden diese Methoden entwickelt?
Das oben genannte Softwarepaket ediarum wird stetig von einem externen Programmierer und unserem projekteigenen Systementwickler angepasst und in vielen Bereichen weiterentwickelt. Dabei profitieren wir von den Erfahrungen aus unseren drei vorangegangenen DFG-Langfristvorhaben, insbesondere von der ‚Kritischen Online-Edition der Nuntiaturberichte von Eugenio Pacelli (1917-1929)‘, in der wir zum Beispiel eine dynamische Ansicht für mehrfach korrigierte Dokumente entwickelt haben, das sogenannte Layer-Modell. Am Ende des dynamischen Prozesses steht eine passgenau entwickelte Datenbank.
Welche Ergebnisse liegen bereits vor, welche erwarten Sie? Wie sähe dieselbe Forschungsarbeit ohne DH-Methoden aus?
In unserer Datenbank befinden sich nach knapp zwei Jahren Arbeit 3.209 transkribierte Dokumente. Wir können schon jetzt sagen, dass der Vatikan sowohl getauften als auch nicht-getauften Juden geholfen hat. Und dass der Vatikan – auch wenn der Papst sich selbst öffentlich nicht zum Holocaust äußerte – in mindestens 80 Prozent der Fälle auf die Anfrage hin in irgendeiner Weise tätig wurde.
Außerdem können wir auf Basis der bisher edierten Bittschreiben einige Aussagen über die Briefe und ihre Verfasserinnen und Verfasser treffen. So sind die meisten der Schreiben auf Italienisch, Deutsch und Französisch verfasst, doch auch Englisch, Latein, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch, Ungarisch und Hebräisch kommen vor. Wir können bereits auswerten, welche Religionszugehörigkeit die Menschen hatten, die sich an den Papst wandten, um anschließend etwa mögliche Unterschiede in der Behandlung von jüdisch-stämmigen Katholiken oder gläubigen Juden zu analysieren. Wir wissen bereits jetzt aus den Schreiben, dass die Lebenswelten der als jüdisch verfolgten Menschen bei weitem nicht so homogen waren, wie es in der Literatur den Anschein hat. Diese Varianz weiter herauszuarbeiten, ist ein Ziel des Projekts. Außerdem zeichnen wir bereits die genannten Orte in den Schreiben aus und können so die Fluchtrouten der Menschen visualisieren. Und schon jetzt können wir die Familienverhältnisse der in den Schreiben genannten Personen in unserer internen WebApp darstellen. Das bedeutet: Ohne digitale Methoden und Hilfen wäre dieses Projekt so nicht durchführbar.
Worin liegt die heutige gesellschaftliche Relevanz dieser Forschungsarbeit, worin liegt diesbezüglich der Wert der DH-Methoden?
Die wissenschaftliche Rekonstruktion der Bittschreiben, die in existentiellen Ausnahmesituationen geschrieben wurden, drängt angesichts des neu erstarkenden Antisemitismus – gerade unter jungen Menschen – nach einer didaktischen Umsetzung und Aufarbeitung. Die Geschichten dieser Menschen der Forschung, den Nachfahren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist ein elementares Ziel des Projekts. Einzelschicksale, unmittelbar geschildert in hochemotionalen Ego-Dokumenten, bieten dafür enormes Potenzial. Daher wird die historische Perspektive um einen kommunikationswissenschaftlich-didaktischen Zugang erweitert. Dieser analysiert, welches Potenzial ein auf Basis der Quellen und ihrer historischen Erschließung entwickeltes digitales Bildungsmaterial für Erinnerungsarbeit und Antisemitismusbekämpfung, für Identitätsfindung und Demokratieförderung hat. Auch hier kommen DH-Methoden zur Anwendung, etwa bei der Aufbereitung von Unterrichtssequenzen und der Einbeziehung von Social Media. Die DH-Methoden ermöglichen es uns überhaupt erst, einen so großen Quellenkorpus zu bearbeiten und schließlich digital zur Verfügung zu stellen. (exc/pie)