„Zeitgenössische arabische Literatur probiert viele neue Formate aus“
Europäische Arabisten-Vereinigung UEAI kommt im September erstmals in Münster zusammen – Schwerpunkt arabische Literatur im Medienwandel – „Literatur und Künste ermöglichen Diskurs über brisante Themen wie Krieg, Kolonialismus und politische Repression“ – Keynote von Konrad Hirschler über „Conflict and Coexistence“
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 6. September 2018
Die zeitgenössische arabische Literatur probiert Arabisten zufolge zunehmend neue Formate wie autofiktionale Internet-Blogs, Graphic Novels und Science Fiction aus. „Die neuen Gattungen und ihre Autorinnen und Autoren werden im Westen bisher kaum wahrgenommen und veröffentlicht“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Barbara Winckler vom Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der WWU im Vorfeld der Jahrestagung der international renommierten Arabisten-Vereinigung „Union Européenne des Arabisants et Islamisants“ (UEAI) kommende Woche in Münster. „Hiesige Verlage schrecken oft vor arabischer Literatur zurück, die nicht in gängige Schubladen passt. Die westliche Wahrnehmung war lange Zeit von orientalisierenden, exotisierenden Erwartungen geprägt.“ Dabei sei die Literatur der Gegenwart einer der wichtigsten säkularen Diskurse in der arabischen Welt. Sie stoße wichtige politische und gesellschaftliche Debatten über brisante Themen der Vergangenheit und Gegenwart an: „Weil in den meisten arabischen Ländern ein kritischer öffentlicher Diskurs fehlt, sind es die Literatur und die Künste, die die Auseinandersetzung mit Themen wie Krieg, Kolonialismus oder politische Repression ermöglichen.“ Auf der UEAI-Konferenz vom 10.-14. September an der WWU, die arabische Literatur ins Zentrum rückt, organisiert Juniorprofessorin Winckler ein Panel zur Veränderung von Literatur im Medienwandel unterschiedlicher Epochen.
„Mit der Verbreitung des Internets und sozialer Medien haben sich neue literarische Ausdruckformen und Gattungen entwickelt“, so die Expertin für arabische Gegenwartsliteratur. „Da das Publizieren und Rezipieren mit dem Web leichter wurde, bildeten sich zugleich neue, teils weniger gebildete und etablierte Bevölkerungsgruppen als Autoren und Leser heraus.“ Im Vorfeld der arabischen Revolutionen etwa hätten in Ägypten immer mehr Menschen begonnen, im Internet zu bloggen, und auch im Libanon wählten etwa während der israelischen Angriffe 2006 junge Künstler den Blog als Mittel, um die Ereignisse zu reflektieren und auch international darauf aufmerksam zu machen. „Es entstand die neue Gattung der autofiktionalen Blogs, in denen Autoren sich und ihre Haltungen literarisch ausdrückten, oft ergänzt durch Zeichnungen oder Musik, und die später teils in Buchform veröffentlicht wurden.“ Das biete in sprachlich und ästhetisch anspruchsvoller Weise Einblicke in das Alltagserleben und die politische Haltung einer jungen Generation, die die Protestbewegungen des ‚Arabischen Frühlings‘ vorangetrieben habe. „Neue Einsichten eröffnen zudem Graphic Novels aus dem arabischen Raum“, sagt Winckler. Zu nennen seien etwa die Werke der 1981 im Libanon geborenen Zeina Abirached. Ihre auf Französisch publizierten Bücher wie „Mourir partir revenir. Le jeu des hirondelles“ (Das Spiel der Schwalben) von 2007 oder „Le piano oriental“ von 2015 (Piano Oriental) stellen in eindrücklichen Schwarz-Weiß-Zeichnungen den Bürgerkriegsalltag aus Kindersicht dar und visualisieren die arabisch-französische Zweisprachigkeit und das Leben zwischen zwei Ländern und Kulturen, indem sie die arabische und die lateinische Schrift auch graphisch einbeziehen.
Dokumentationen und Dystopien
„Auffällig ist, dass im Umfeld der Arabellion auch vermehrt dokumentarische Formen und Dystopien entstanden“, so Winckler. So experimentierten Aktivisten, aber auch etablierte Autoren, im Umfeld der Protestbewegung mit dokumentarischen Formen, die sich zwischen Roman, Tagebuch und Reportage bewegen: Mona Prince zeichnet in „Ismi thawra“ von 2012 (engl. „Revolution is My Name“) nach, wie sie die Tage der Revolte erlebt hat, die zum Sturz Mubaraks führten. Beschreibungen des Alltagslebens auf dem Tahrir-Platz und Diskussionen mit Freunden und Fremden auf der Straße wechseln ab mit Angaben zum Facebook-Status und Reflexionen über die eigene Position innerhalb der Bewegung. Ein Beispiel für dystopische Werke sei der Roman „at-Tabur“ (2013) der ägyptischen Autorin und Psychiaterin Basma Abdel Aziz, der in Englisch als „The Queue“ erschien. Ohne dass die Ereignisse um den Tahrir-Platz genannt würden, sei die Darstellung eines repressiven Regimes und einer gescheiterten Revolution als kritischer Kommentar zur aktuellen Lage zu verstehen. „Die meisten anerkannten Schriftsteller sind ohnehin eher links oder liberal orientiert, früher marxistisch.“ Regimetreue Autoren dagegen seien selten, auch wenn es Ausnahmen gebe wie Abd al-Razzaq Abd al-Wahid (1930-2015), einen anerkannten irakischen Dichter, der Lobgedichte auf Saddam Hussein schrieb und noch lange nach dessen Tod positiv über ihn sprach.
„Herrschte in der arabischen Literatur über Jahrhunderte die Dichtung vor, im 20. Jahrhundert dann auch Romane und Kurzgeschichten, werden in jüngster Zeit immer neue Formen ausprobiert.“ Ästhetisch und formal sei die moderne arabische Literatur – „was viele westliche Leser überraschen mag“ – grundsätzlich nicht fremd. „Sie ist Teil einer Weltliteratur und folgt durchaus globalen Strömungen. Arabische Autorinnen und Autoren haben meist einen ähnlichen Bildungskanon wie ihre westliche Kollegen, kennen westliche Werke und Diskurse, zusätzlich aber die Kultur ihrer Region. Mit beiden Traditionen gehen sie souverän um und betrachten ihrerseits etwa die europäische Literatur nicht als eine ‚fremde‘.“ Umgekehrt habe sich auch Europa in den vergangenen 20 Jahren der arabischen Literatur geöffnet, so Winckler. Es seien weit mehr arabische Bücher übersetzt und publiziert worden als zuvor, auch ins Deutsche. „Darunter waren oft Bestseller aus dem arabischen Raum – das Ranking von Büchern ist dort übrigens ein neues Phänomen – wie ‚Der Jakubijan-Bau‘ (2002) des ägyptischen Autors und Aktivisten Ala al-Aswani oder ‚Die Girls von Riad‘ (2005) der jungen saudischen Autorin Rajaa Alsanea.“ Solche Werke würden im Westen gern als „Spiegelbild der Realität“ gesehen. „Sie werden hier publiziert, weil Leser mehr über die Region erfahren möchten. Ästhetische Aspekte spielen dagegen kaum eine Rolle – gerade komplexere Texte, etwa der libanesischen Autorin Hoda Barakat, finden so keine Verlage.“
Im Literatur-Schwerpunkt der 29. Tagung der „Union Européenne des Arabisants et Islamisants“ (UEAI) wollen die Teilnehmer neue kulturwissenschaftliche Ansätze auf die arabische Literatur der Vormoderne und Moderne anwenden, darunter Konzepte von Medialität und Literatur. Das epochenübergreifende Panel mit Prof. Dr. Barbara Winckler erörtert, wie sich Form und Funktion von Literatur durch Medienwandel ändern, welche neuen Akteure und Rezipienten sich entwickeln und wie sich „alte“ und „neue“ Medien zueinander verhalten – ob sie etwa konkurrieren, nebeneinander bestehen oder sich sogar ergänzen. Einen Schwerpunkt bildet das Medium Zeitschrift, seit dem 19. Jahrhundert eines der wichtigsten Foren für gesellschaftliche wie ästhetische Debatten in der arabischen Welt. Vorträge des Panels beschäftigen sich mit Auseinandersetzungen um die arabische Prosadichtung in ägyptischen Zeitschriften des frühen 20. Jahrhunderts, mit Reflexionen über Kunst und Ästhetik im Beirut der 1950er Jahre, mit Form und Umfeld intellektueller Avantgarde-Zeitschriften und damit, wie in Gesellschaft vorgetragene Reden oder Veranstaltungen in gedruckte Medien übersetzt werden und gemeinschaftsstiftend wirken. Weitere Themen sind der Wandel von Verlagsstrategien in Ägypten unter dem Motto „Vom Taschenbuch bis Facebook“, die Praxis des Geschichtenerzählens in Marokko, die Modifikation von Gedichten im Prozess der Vertonung und Aufführung und „Kalila wa-Dimna“, eines der ältesten arabischen Werke in Buchform, das die Funktionen des Buches innerhalb des Buches thematisiert. (vvm)