Zwischen den Riten Jerusalems und Konstantinopels
Katholischer Theologe Lüstraeten zur Entwicklung der byzantinischen Vesper
Über die Entwicklungsgeschichte der Byzantinischen Vesper hat der katholische Theologe Dr. Martin Lüstraeten in der öffentlichen Ringvorlesung „Musik und Religion“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ gesprochen. Der Forscher von der Universität Mainz untersuchte in seinem Vortrag die Struktur und Theologie dieses Abendgebetes. „Aus dem liturgischen Vollzug lassen sich theologische Aussagen ableiten. Der Ritus vermittelt aber auch einen ästhetischen Eindruck“, erläuterte Lüstraeten. Es sei – gerade bei östlichen Riten – schon immer Anspruch an die Liturgie, dass sie Menschen überwältige. „Die Wahrheit der Religion soll durch den ästhetischen Eindruck der Liturgie erfahrbar werden.“
Der Vortrag trug den Titel „‚Und wir wissen nicht: Sind wir im Himmel gewesen oder auf der Erde?‘ Die Byzantinische Vesper und ihre Genese“. Er war zugleich eine Einführung in die griechisch-orthodoxe Vesper, die in der nächsten Woche stattfindet. Der Exzellenzcluster lädt dazu am Dienstag, 23. Mai, um 18.15 Uhr ein. Das Abendgebet wird von Pfarrer Konstantinos Vogiatzis geleitet. Mitglieder des byzantinischen Kantorenchors München unter Leitung des Münchener orthodoxen Theologen Prof. Dr. Konstantin Nikolakopoulos begleiten die Vesper mit Gesängen. Sie findet in der Petrikirche am Jesuitengang, hinter dem Fürstenberghaus am Domplatz 20-22, statt.
Stetiger Wandel, verschiedene Traditionen
Martin Lüstraeten unterstrich in seinem Vortrag, dass die Entstehung der heutigen byzantinischen Vesper keiner konsistenten Entwicklungslinie folgte. Schon ihr Name sei irreführend: „Der byzantinische Ritus wurde zwar auch von Konstantinopel geprägt, aber zu einem großen Teil dann doch von Jerusalem.“ Die byzantinische Vesper gehe wie die römisch-katholische auf die Traditionen der alten Kirche zurück. „Sie knüpft an das Motiv von Untergang und Aufgang der Sonne als Metaphern für Tod und Auferstehung Jesu an“, sagte Lüstraeten. Davon ausgehend habe sich das Abendgebet in einem komplexen Prozess entwickelt, „in dem sich die Riten Jerusalems und Konstantinopels einerseits sowie der Klöster und Kathedralen andererseits immer wieder neu vermischten“. Die Entwicklungsphasen wurden Lüstraeten zufolge durch politische Ereignisse ausgelöst, die ein Festhalten an früheren Feierformen unmöglich machten, etwa die Einnahme Jerusalems und die Zerstörung der heiligen Stätten durch die Perser im Jahr 614 oder die Eroberung Konstantinopels durch die lateinischen Kreuzfahrer im Jahr 1204 nach Christus. „Gleichzeitig kam aus dem Mönchtum ein stetig wachsender Schatz an neuen Dichtungen und Gesängen, die in die Tagzeitenliturgie aufgenommen wurden.“
Der Theologe zeigte, wie sich die byzantinische Tagzeitenliturgie fortwährend und oft losgelöst von kirchlichen Hierarchien wandelte. In ihrer gegenwärtigen Form ließen sich verschiedene Traditionen und Elemente wiedererkennen: „In der byzantinischen Vesper von heute ist die Lichtfeier der Jerusalemer Grabeskirche erhalten, deren Ritus um verschiedene Gebete und Litaneien aus Konstantinopel erweitert wurde. Vorangestellt ist ihr ein klösterlich geprägter Psalmengesang.“ Die byzantinische Vesper verbreitete sich Lüstraeten zufolge schnell über Griechenland und den Nahen Osten hinaus in das heutige Russland, wo sie ins Slawische übersetzt wurde und noch heute gefeiert wird. (dak/ill)