„Eine politische Theologie im wahrsten Sinne“
Philosoph Schmidt-Biggemann zur Entwicklung einer christlichen Kabbala in der Renaissance
Über die Entwicklung einer christlichen Kabbala in der Renaissance hat der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmidt-Biggemann in der Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“ gesprochen. Darin legte er dar, wie Christen vermehrt ab dem 15. Jahrhundert eigene Glaubensinhalte mit Bildern und Argumenten auswiesen, die auch in der jüdischen Mystik-Tradition verwendet werden. Grundlegend für diese im Mittelalter entstandene Strömung des Judentums ist die Suche des Menschen nach einer unmittelbaren Beziehung zu Gott. Neben den biblischen Wurzeln thematisierte der Wissenschaftler in der Reihe des Exzellenzclusters und des Centrums für religionsbezogene Studien (CRS) der WWU auch die historische Entwicklung im späten Mittelalter hin zu einer christlichen Kabbala. Als einen „herausragenden wie radikalen“ Vertreter der christlichen Kabbala hob er besonders den französischen Gelehrten und Propheten Guillaume Postel (1510-1581) und seine politische Theologie hervor.
„Postel und die anderen christlichen Kabbalisten der Renaissance waren Eschatologen, die die bereits in der jüdischen Kabbala betonte prophetische Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung des Einzelnen und der gesamten Schöpfung im Weltende verfolgten. Sie sahen sich und die Politik im Rahmen der Heilsgeschichte“, sagte Prof. Schmidt-Biggemann. So habe die weltgeschichtliche Aufgabe der Politik aus Sicht der christlichen Kabbalisten darin bestanden, zur Vollendung der Geschichte beizutragen. „Politik ist hier theologisch normiert und im wahrsten Sinne politische Theologie“, so der Philosoph. Dies fuße auf einer „spekulativen Exegese des Alten und Neuen Testaments.
Die biblische Heilsgeschichte spielte eine besondere Rolle für die kabbalistische Tradition, wie Prof. Schmidt-Biggemann ausführte. Sie handle etwa von der „Erschaffung der guten Welt und des Menschen durch einen guten Gott“, vom Sündenfall, dem Mensch und Natur unterlägen, sowie vom daraus folgenden, erforderlichen „Prozess der messianischen Erlösung“, dessen Ende noch ausstehe. „Diese weltweit wohl erfolgreichste Geschichte hat möglicherweise den Begriff ‚Geschichte‘ überhaupt erst als Universalgeschichte konstituiert“, sagte der Forscher. „Die Bibel hat diesen heilsgeschichtlichen Rahmen selbst geschaffen und prophetisch ausgefüllt.“
Der Philosoph nannte die wichtigsten biblischen Endzeit-Motive, die in Mittelalter und früher Neuzeit wirksam von Theologen und Gelehrten für Prophezeiungen genutzt und schließlich auch von den christlichen Kabbalisten aufgegriffen wurden. „Dazu gehören die vier Danielischen Reiche, deren letztes – das römische – im römisch-deutschen Reich fortbestehen sollte, bis das Weltende einträte.“ Das Weltende wiederum sei prophetisch zunächst durch theologisch-politische und kosmische Bedrängnisse bestimmt gewesen, wie sie in der Johannes-Apokalypse sowie in der Vision des Antichristen und dessen „Aufhalter“ (2 Thess. 2) vorhergesagt worden seien. „Vor der Wiederkunft des Herrn sollten die Heiden und die Juden zudem bekehrt sein (Röm. 11), und mit der Wiederkunft des Herrn sollte sich das himmlische Jerusalem auf die Erde herabsenken (Apok. 20).“
Die biblischen Endzeitprophetien seien durch mittelalterliche Voraussagungen weiter verstärkt und radikalisiert worden. Die Vorstellungen vom Antichristen und vom Endzeitkönig etwa präzisierte Prof. Schmidt-Biggemann zufolge der in syrischer Sprache schreibende Gelehrte Pseudo-Methodius (7. Jahrhundert nach Christus), dessen Werk auch den einflussreichen fränkischen christlichen Theologen Adso von Montier-en-Der (10. Jahrhundert nach Christus) sowie das allgemeine eschatologische Weltbild der Zeit beeinflusste. „Der kalabrische Abt Joachim von Fiore (gestorben 1202) wiederum hoffte, dass sich nach der Ära des Vaters und des Sohnes in einem dritten Weltzeitalter die ‚Herrschaft des Geistes und des Engelspapstes‘ ereignen werde.“
Alle diese Muster bedienten laut Prof. Schmidt-Biggemann schließlich auch die christlichen Kabbalisten in der Renaissance, „allen voran der französische spekulative Philologe, Kabbalist und Eschatologe Guillaume Postel im 16. Jahrhundert“. In seinem Frühwerk, der Weltmissionsschrift „De orbis Terrae concordia“ („Über die Harmonie der Welt“), habe er sich zunächst als missionierender kabbalistischer Philologe gezeigt und sich wenige Jahre später zum Propheten des Weltendes gesteigert, so der Wissenschaftler. „Schließlich sah er sich als weltgeschichtlichen Vollender der Heilsgeschichte, als Engelspapst und neugeborenen Messias. Dabei versuchte er, den französischen König Franz I. (1449-1547) als Endzeitkönig in seine Heilsgeschichte zu integrieren“, so der Philosoph. Postel habe die Spiritualisierung der Politik und die Politisierung der Spiritualität „philologisch und spekulativ auf höchstem Niveau“ betrieben. Zugleich habe er sich bis zu seinem Tode in einer „höchst radikalen Form von Heiligkeit“ selbst inszeniert. „Seine Konzepte kann man dabei als eine Art theologische Poesie verstehen“, so der Philosoph.
Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“
Der Vortrag trug den Titel „Politische Theologie der christlichen Kabbala. Der Fall Guillaume Postel (1510–1581)“. Wilhelm Schmidt-Biggemann ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Am Dienstag, 9. Juni, spricht der Indologe Prof. Dr. Michael Zimmermann aus Hamburg über „Vom Nicht-Selbst zur Buddha-Natur? Buddhistische Vorstellungen vom Wesen des Menschen in Wechselwirkung mit anderen indischen Religionen“. Der Vortrag beginnt um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22.
Die Vortragsreihe „Transfer zwischen Religionen. Wenn religiöse Traditionen einander beeinflussen“ untersucht, wie es zwischen Religionen in verschiedenen Kulturräumen und Epochen zu vielfältigen Formen des Austauschs religiöser und kultureller Traditionen kam. Die Themen der öffentlichen Reihe reichen von multi-religiösen Identitäten in modernen pluralen Gesellschaften über den Transfer in der regulierten Religionsvielfalt Chinas bis zum christlich-muslimischen Dialog im Nahen Osten. Auf dem Programm stehen auch der Reliquientransfer zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum sowie Wechselwirkungen zwischen dem Buddhismus und anderen indischen Religionen. Am Exzellenzcluster werden Transfer-Phänomene seit 2012 im Forschungsfeld „Integration“ untersucht. (han)