Wann beginnt die Schutzwürdigkeit von Embryonen?

Medizinethikerin und Theologe zum moralischen Status frühen menschlichen Lebens

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Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert und Prof. Dr. Reiner Anselm

Über die Schutzwürdigkeit von Embryonen haben die Medizinethikerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert von der WWU und der Göttinger evangelische Theologe Prof. Dr. Reiner Anselm in der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ des Exzellenzclusters diskutiert. Prof. Schöne-Seifert erörterte, ab welchem Zeitpunkt menschliche Embryonen zu schützen seien. „Das ist die Nadelöhr-Frage in den Debatten um die moralische Beurteilung von Abtreibungen, Präimplantationsdiagnostik oder Embryonen-verbrauchender Stammzellforschung.“ Der Theologe Prof. Anselm stellte in der medizinethischen Debatte das Selbstbestimmungsrecht der Frau in den Vordergrund. Es müsse „notwendigerweise ein Ausgleich zwischen Mutterschutz und Embryonenschutz“ gefunden werden. Die öffentliche Veranstaltung trug den Titel „Der Beginn des Lebens“.

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Film-Mitschnitt der Diskussion

Prof. Schöne-Seifert sagte, aus ihrer Sicht hätten nicht schon früheste Embryonen den „vollen moralischen Status“ eines erwachsenen Menschen. „Während etwa die katholische Kirche diese Position vertritt, vertrete ich eine Position weit am anderen Ende des Spektrums.“ Eine genuine Schutzwürdigkeit von Embryonen lasse sich erst mit deren Fähigkeit, Schmerz zu empfinden und also Bewusstsein zu haben, überzeugend begründen; ein voller moralischer Status noch später – plausibel sei hier der Zeitpunkt der Geburt. Diese Einschätzung, die sie mit vielen „im liberalen Lager“ teile, nannte die Medizinethikerin eine „insgesamt vernünftige und keineswegs menschenverachtende Position“. Die Zuschreibung eines vollen moralischen Status‘ gegenüber befruchteten Eizellen hingegen sei „inkohärent, moralisch kostspielig und in gewisser Hinsicht sogar zynisch“, so Prof. Schöne-Seifert, die von 2001 bis 2010 Mitglied im Deutschen Ethikrat war. Damit würden „kleine Zellpünktchen, die auf Nadelspitzen passen“, mit  schutzbedürftigen geborenen Menschen wie Kindersoldaten und hungernden Säuglingen auf eine Stufe gestellt. „Das scheint mir ungeheuerlich.“

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Ton-Mitschnitt der Diskussion

Der evangelische Theologe Prof. Dr. Reiner Anselm hob hervor, dass die Betonung der Eigenrechte des Embryos die Rolle der Frau bei der Weitergabe des Lebens in den Hintergrund rücke. Das habe die protestantisch-theologische Ethik zu lange getan. „An eben dieser Stelle scheint mir die Problematik derjenigen Positionen zu liegen, die sich für einen umfassenden Schutz des Lebens einsetzen.“ Ein Lebensschutz, der Leben nur biologistisch vom Embryo her verstehe und nicht das Leben der Frau einbeziehe, bleibe defizitär. „Mit großer Sorge beobachte ich, wie schnell wir bereit sind, in der Debatte um den Embryonenschutz die Zugewinne zu verspielen, die wir im Rahmen der Emanzipationsbewegung seit den 1960er Jahren mühsam gewonnen haben.“

Entscheidungen über einen Schwangerschaftsabbruch, wenn etwa vorgeburtlich die Behinderung des Embryos festgestellt worden sei, sollten nach den Worten des Theologen der Frau beziehungsweise dem Paar überlassen werden. Die Gesellschaft solle stärker die Perspektive der Schwangeren und ihres Partners berücksichtigen und respektieren. „Es geht nicht darum, eine bestimmte Eigenschaft des Embryos als nicht lebenswürdig darzustellen, sondern darum, die Entscheidung der Eltern zu akzeptieren, wenn sie das Kind unter diesen Umständen nicht bekommen möchten.“ Es sei ein Problem der theologischen Ethik, dass sie diese Perspektive „schlichtweg ignoriert“ habe. „Wir dürfen Entscheidungen nicht aufoktroyieren, sondern sollten moderieren.“

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Veranstaltungsreihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“

Moderator des Abends war der Rechtsphilosoph Prof. Dr. Thomas Gutmann vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“. Das nächste Streitgespräch am Dienstag, 3. Juni, befasst sich ebenfalls mit medizinethischen Fragen unter dem Titel „Das Ende des Lebens“. Es diskutieren der Leiter der Transplantationsmedizin am Universitätsklinikum Münster, Prof. Dr. Hartmut Schmidt, und der evangelische Theologe Prof. Dr. Traugott Roser aus Münster. Die Moderation übernimmt der praktische Theologe Prof. Dr. Christian Grethlein aus Münster.

In der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ diskutieren im Sommersemester Theologen und Nicht-Theologen aktuelle Themen wie Hirnforschung, Wirtschaftsethik und Friedenspolitik. Veranstalter sind der Exzellenzcluster und die Evangelisch-Theologische Fakultät. Die Streitgespräche sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F1 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Das Format trägt den Untertitel „Disputationen zwischen Theologie, Natur- und Gesellschaftswissenschaften“. (mit/ska/vvm)