„Suizid ist Muslimen nicht geboten“

Islamwissenschaftler sieht für islamistische Selbstmordattentate keine eindeutige Begründung in Koran und Sunna

News Islamistische Selbstmordattentaeter

Zahlreiche Wissenschaftler untersuchten auf der Tagung „Leben oder sterben für Gott?“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ das religiöse Martyrium.

Islamistische Selbstmordattentate lassen sich Experten zufolge nicht eindeutig mit den religiösen und rechtlichen Schriften des Islam begründen. „Der Selbstmordanschlag wird in den maßgebenden Texten des Korans, der Prophetentradition oder der gesammelten Aussprüche der Imame nirgendwo klar gerechtfertigt“, sagte Islamwissenschaftler Dr. Jan-Peter Hartung von der Londoner School of Oriental and African Studies am Freitag auf einer Konferenz in Münster. Er äußerte sich als Gastredner auf einer Tagung über religiöse Märtyrer am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Nur durch eine bewusste Vereinfachung von komplexer Theologie und Religionsrecht hätten gewaltbereite Islamisten dem Martyrium zu neuer Macht verholfen, so der Forscher. „Um politische Ziele mit Terror durchzusetzen, haben diese Kreise einzelne Elemente frühislamischer Texte wiederbelebt, die mit anderen religionsrechtlichen Bestimmungen aber oft unvereinbar sind.“

In ihrer extremen Auslegung des Islam sähen sich die modernen Selbstmordattentäter als Märtyrer unmittelbar ins Paradies eingehen, erläuterte Hartung. „Es ist aber fraglich, ob man im Islam das Martyrium bewusst suchen und sich absichtlich in Situationen begeben darf, in denen der eigene Tod unausweichlich ist. Denn Suizid ist Muslimen nicht geboten.“ Der Prophet Muhammad, so Hartung, habe Selbstmördern die ewige Wiederholung der selbstgewählten Todesart in der Hölle verheißen. Den Freitod zum Zweck des Martyriums zu wählen sei aus religionsrechtlicher Sicht nicht statthaft, so der Forscher. „Aussagen wie diejenigen der Attentäter vom 11. September 2001, die auf das Erlangen paradiesischer Freuden als Lohn für den Freitod abheben, müssen deshalb als problematisch gelten.“

In anderen Texten der islamischen Frühzeit gibt es laut Hartung durchaus Belege, die Selbstmord als gerechtfertigt ansehen, etwa in Schriften des muslimischen Philosophen al-Farabi um 900 nach Christus. „Nach dieser Ansicht ist Freitod in Situationen vertretbar, in denen die Menschenwürde in extremer Weise verletzt ist“, sagte der Islamwissenschaftler. Diese Texte ständen aber stets im Kontrast zu anderen Belegen, die dem widersprechen. Dass der religiös motivierte Freitod dem Islam ureigen sei und eindeutig den Weg ins Paradies ebne, wollte der Experte daher nicht bestätigen. „Diese Komplexität der Begründungsmuster“, kritisierte Hartung, „findet allerdings in der gegenwärtigen politischen Berichterstattung über modernen Terrorismus kaum Beachtung.“


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Wissenschaftler tauschten sich über Märtyrer in Judentum, Christentum und Islam aus.

„Selbsttötung widerspricht dem Gebot der Lebensbewahrung“

Die Judaistin Prof. Dr. Regina Grundmann vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ und der evangelische Theologe Dr. Sebastian Fuhrmann der WWU hatten die international besetzte Konferenz „Leben oder sterben für Gott?“ organisiert. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen diskutierten in Münster drei Tage lang, warum über Jahrhunderte schon immer Juden, Christen und Muslime für Gott gestorben sind. Solche Selbsttötungen stünden im absoluten Gegensatz zu dem Gebot der Lebensbewahrung und zu dem Gebot „Du sollst nicht töten“, sagten Grundmann und Fuhrmann. Ziel der Tagung war es, die geschichtlichen Hintergründe des Themas Martyrium in verschiedenen Religionen untersuchen, auch vor dem Hintergrund des islamistischen Terrorismus von heute.

„Im Gegensatz zu dem, was in aktuellen Debatten als islamistisches Martyrium bezeichnet wird, fehlt in der christlichen Martyriumstradition der Gedanke völlig, dieses auch als kriegerische Handlung gegen andere Menschen zu verwenden“, unterstrich Fuhrmann. Mit dem christlichen Martyrium sei fast immer ein missionarischer Impuls gegenüber Heiden verbunden gewesen. „Das Erleiden des freiwilligen Todes war ein kaum zu überbietendes Zeichen, Gott mehr zu achten als den Menschen“, sagt der Neutestamentler. Daher bestehe die Gefahr, dass die Medienbilder islamistischer Selbstmordattentäter bei vielen Menschen ein einseitiges Bild des religiösen Märtyrers festigten. Für das Judentum ist das Gebot der Lebensbewahrung laut Judaistin Grundmann zentral. „Das Religionsgesetz ist nicht dazu da, Leben zu zerstören, sondern es zu erhalten“, betonte die Wissenschaftlerin. (han)

Fotos

Prof. Dr. Regina Grundmann und Dr. Sebastian Fuhrmann waren Veranstalter der Tagung.
  • Prof. Dr. Jan Willem van Henten hielt einen öffentlichen Abendvortrag.
  • Impressionen von der Tagung
  • Folker Siegert (rechts) sprach zur Einstellung des Josephus zum Martyrium.
  • Referent und Zuhörer in der Diskussion
  • Fachliche Diskussion während der Tagung
  • Fachgespräche während der Tagung
  • Impressionen von der Tagung
  • Das Martyrium ist auch in der Kunst ein wichtiges Thema.
  • Das Plakat der Tagung "Leben oder sterben für Gott?"