„Der Gekreuzigte und der Antichrist“
Masterclass mit Leibnizpreisträger Prof. Dr. Heinrich Detering über Nietzsche
Friedrich Nietzsches letzte Texte und das in ihnen entworfene Modell der Selbstautorisierung philosophischer Rede standen im Fokus einer Masterclass mit dem Gastwissenschaftler Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering am Exzellenzcluster. Der Göttinger Literaturwissenschaftler und Leibnizpreisträger stellte in der Masterclass Thesen seines aktuellen Buchprojekts vor.
Heinrich Detering betonte die Notwendigkeit, insbesondere die narrativen Verfahren und Autorschaftsmodelle der gemeinhin als philosophisch klassifizierten Texte präzise zu untersuchen. Erst eine literaturwissenschaftliche Analyse von Nietzsches „Der Antichrist“ und „Ecce Homo“ mache die philosophische und literarische „Kontinuität, Kohärenz und Zurechenbarkeit“ dieser Schriften plausibel, so der Literaturwissenschaftler.
Außerordentlich anschaulich rekonstruierte Detering den häufig überlesenen Entwurf einer Christus-Figur in Nietzsches „Antichrist“, die als Künstlergestalt erstens durchaus positive Züge trägt und zweitens die Vorlage für die Christus-Ikonografie des „Ecce Homo“ bildet. Mit letzterem Text trete Nietzsche schließlich in die Rolle des narrativ remodellierten „Antichrist-Jesus“ ein und begründe damit ein für die Literatur und die Kunst folgenreiches Konzept kunstreligiöser Selbstermächtigung und Selbstvergöttlichung.
Ein Spiel mit Identitäten
In der vertiefenden Diskussion besprachen Doktorandinnen und Doktoranden aus der Graduiertenschule des Exzellenzclusters und der literaturwissenschaftlichen Graduate School Practices of Literature gemeinsam mit Heinrich Detering weitere Aspekte der herausfordernd komplexen Texte und ihrer kunstreligiösen Selbstentwürfe. Nietzsches sich permanent überbietende Identifikationen lassen sich exemplarisch an seinen Signaturen ablesen. In den Jahren 1888/89 unterschreibt er alternierend mit „Dionysos“, „der Antichrist“ oder „der Gekreuzigte“ und gestaltet dadurch ein Spiel mit Identitäten als „Wortspiel“.
Ebenso wie das „Und so erzähle ich mir mein Leben“ in Nietzsches „Ecce Homo“ sinnvoll als Beschreibung des Erzählverfahrens, das sich als trinitarisches Selbstgespräch vollzieht, gedeutet werden kann, so schafft die narrative Dynamik in Nietzsches letzten Texten insgesamt eine Vereinigung verschiedener Sprecherpositionen in der konsequenten Poetisierung einer – an die Mystik grenzenden – christlich-religiösen Selbstvergöttlichung.
Die Veranstaltung mit Heinrich Detering hat nicht nur im Hinblick auf Nietzsches letzte Texte neue Perspektiven eröffnet, sondern machte auch die spezifische Kompetenz literaturwissenschaftlicher Analysen von „Religion und Politik“ deutlich. Insbesondere die kunstreligiöse Inszenierung von Autorinnen und Autoren, Künstlerinnen und Künstlern findet in Friedrich Nietzsches Inszenierungen eine Vorlage, ohne die sich, wie Heinrich Detering aufschlussreich vorführte, etwa der „dionysische Reliquienkult“ um Elvis Presley gar nicht verstehen ließe. (Matthias Schaffrick)