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"Eines der intelligentesten und komischsten Werke der Weltliteratur"

100 Jahre "Der Zauberberg": Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Kai Sina über Thomas Manns Jahrhundertroman
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Prof. Dr. Kai Sina
© Hans Scherhaufer

Einer der großen Romane der Moderne, Thomas Manns "Zauberberg", erschien am 28. November 1924 offiziell im Druck. Der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Kai Sina vom Germanistischen Institut erläutert im Gespräch mit Brigitte Heeke, warum es sich lohnt, das Werk (erneut) zu lesen.

Wenn Sie den vielschichtigen Roman mit einem Satz zusammenfassen müssten, welcher wäre das?

Dürfen es auch zwei Sätze sein? Der junge Schiffbauingenieur Hans Castorp besucht ein Tuberkulose-Sanatorium in den Schweizer Alpen für einen kurzen Aufenthalt. Doch aus den geplanten drei Wochen werden am Ende sieben Jahre, während der er über verschiedene Aspekte des Lebens nachdenkt – im philosophischen und psychologischen, aber auch physiologischen Sinne. Der Roman nutzt diese individuelle Erfahrung als Allegorie für die intellektuellen und kulturellen Spannungen Europas vor dem Ersten Weltkrieg.
 

Buch-Cover
Buch-Cover
© Verlag S. FISCHER

Ein Jahrhundertroman, der nun selbst hundert wird: Warum sollte man das Buch heute noch lesen?

Weil es eines der intelligentesten und zugleich komischsten Werke der Weltliteratur ist. Und weil seine Diagnose der Moderne weiterhin gültig, ja heute vielleicht sogar so dringlich ist wie lange nicht mehr: "Der Zauberberg" zeichnet das Bild einer äußerst vielstimmigen Gesellschaft, in der hitzig und leidenschaftlich debattiert wird. Der Autor macht aber gleichzeitig klar, dass diese Vielfalt auch Risiken birgt. Sie kann in Gereiztheit, Stumpfsinn und Irrationalität umschlagen – und im schlimmsten Fall in Gewalt und Krieg enden.

Weltflucht, Abgesang auf eine vermeintlich untergehende Gesellschaft oder literarischer Vorbote einer weltweiten Katastrophe: Was trifft auf den "Zauberberg" aus Ihrer Sicht eher zu?

Das lässt sich kaum voneinander trennen, und es schließt sich auch nicht aus. Der Krieg ist der apokalyptische Schlusspunkt, mit dem Thomas Mann das bürgerliche Zeitalter für endgültig beendet erklärt. Bevor es dazu kommt, schildert er diese alte Welt zwar noch einmal in ihrer ganzen Fülle, Sattheit, Exzentrik und Schläfrigkeit. Aber man spürt bei der Lektüre schon bald: Die fallenden Linien dominieren. Es ist vorbei.

In dem Sanatorium, dem Ort des Geschehens, wird eine Gesellschaft im Kleinen abgebildet. Es gibt jedoch auch den Vorwurf, dass diese elitär sei – fehlt hier ein großer Teil der Gesellschaft?

Ist das wirklich ein Vorwurf an den Roman? In der Tat rückt Thomas Mann das Milieu in den Mittelpunkt, das er am besten kannte, also das mittlere und gehobene Bürgertum. Zugleich lässt sich schwer behaupten, der Roman bilde eine in sich homogene Gesellschaft ab. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Sanatoriums kommen aus verschiedenen europäischen Ländern und repräsentieren unterschiedliche kulturelle und soziale Hintergründe. Figuren wie Mynheer Peeperkorn, der reiche Kolonialunternehmer, oder Naphta, der jüdisch-marxistische Jesuit, unterstreichen, dass Thomas Mann bewusst eine Vielfalt an Menschen und Weltanschauungen eingebunden hat. Dadurch geht der Roman über die Grenzen des Bürgertums hinaus. Das Sanatorium wird zu einer Bühne, auf der sich die großen Debatten und Fragen der Zeit entfalten – von Krankheit und Tod über Fortschrittsglaube und Körperlichkeit bis zur Politik und Mythologie.

Die Hauptfigur, Hans Castorp, ist Ingenieur. Verbirgt sich dahinter eine Art "Machbarkeitserwartung", wie später auch bei dem Protagonisten in Max Frischs "Homo faber"?

Ja, in gewisser Weise stimmt das. Hans Castorp repräsentiert als Ingenieur den Geist des Fortschritts und der Technik, auch wenn er für seine Profession nicht gerade zu brennen scheint. Den Band über "Ocean Steamships" trägt er nur pflichtschuldig mit sich herum. Im Sanatorium wird dieser Restglaube dann vollends zunichte gemacht. Der Zauberberg konfrontiert ihn mit einer Welt, in der Krankheit, Zeit und Tod durch Rationalität nicht beherrschbar sind. Stattdessen wird er gezwungen, sich auf ein anderes Zeitverständnis und Grundfragen des Menschseins einzulassen. Anders als Walter Faber, der an seinem Fortschrittsglauben scheitert, durchläuft Castorp eine Transformation, auch wenn ihm das selbst vielleicht nicht ganz bewusst ist.

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Prof. Dr. Kai Sina