Vortrag von Prof. Dr. Dr. Robert Nitsch (Ärztlicher Direktor des UKM)
Einer gängigen Auffassung innerhalb der neurowissenschaftlichen scientific community zufolge bestehen für eine biologische Erklärung all jener Phänomene, die in der Philosophie traditionell dem Leib-Seele-Problem subsumiert werden, nur noch quantitative, keine qualitativen Probleme mehr. Dass bis heute ein solches biologistisches Erklärungsprogramm mentaler Phänomene noch nicht in vollem Umfang erfolgreich gewesen ist, liegt nach dieser Auffassung allein an der Tatsache, dass die Menge an gesicherten Daten über die Struktur und Funktion des Gehirns noch nicht ausreichend ist, um Phänomene wie Bewusstsein, Denken, Fühlen und Glauben eindeutig erklären zu können.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung wird die These vertreten, dass erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse selbst keinen Ersatz für eine Erkenntnistheorie darstellen. Vielmehr wird die Position vertreten, dass erfahrungswissenschaftliche Forschungsprogramme, wie etwa das neurowissenschaftliche, von der Erfahrung selber vorgängigen Prozessen abhängig sind. Kein Forschungsprogramm ist aber in der Lage, die Wirklichkeit als das Gegebene freizulegen und seinen wissenschaftlichen Anspruch aus diesem Vorgehen zu begründen. Vielmehr definieren in einer scientific community nicht die Gegenstandsbereiche, sondern die kommunikativen Standards, die sich als Ergebnis einer gestellten Aufgabe herausgebildet haben, Kriterien für wissenschaftliche Disziplinen. Genauer heißt dies, dass sowohl naturwissenschaftliche Theorien über das Gehirn und seine Leistungen und psychologische Theorien über Kognitionsfunktionen als auch erkenntnistheoretische Erwägungen der Philosophie als gleichwertige wissenschaftliche Programme neben einander stehen. Folgt man diesem Gedanken, wäre der inzwischen weitverbreiteten Hybris der naturwissenschaftlich orientierten Neurowissenschaften gegenüber philosophischen Argumenten in der Leib-Seele Diskussion Einhalt zu gebieten.