Forschungsprojekt
Promotionsforschung:
Namensänderungen in Westfalen, 1867-1961: Öffentliche Verwaltung zwischen populärer Praxis und politischer Steuerung (Arbeitstitel)
Personennamen befinden sich an einer sensiblen Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft. Einerseits präsentieren sie sich als intimer und persönlicher Teil eines jeden Menschen und sind mit den Lebensgeschichten und Lebenswegen seiner Trägerinnen und Träger verbunden. Anderseits sind Namen vielfach in kollektiven alltäglichen, rechtlichen und politischen Diskursen und Praktiken eingebettet – auf Ebene der Familie, der Gemeinde und des Staates.
An diesem Spannungsverhältnis setzt das Promotionsprojekt „Namensänderungen in Westfalen“ an, indem es sich in historisch-anthropologischer Perspektive mit der Praxis von öffentlich-rechtlichen Namensänderungen im Regierungsbezirk Münster in dem Zeitraum von 1867 bis 1961 befasst.
Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde die Namensführung in Preußen zunehmend verrechtlicht, standardisiert und reguliert. Namensänderungen, die nicht durch das Zivilrecht geregelt wurden (Heirat, Scheidung, Adoption), galten seitdem als begründungsbedürftige Ausnahmefälle, die vom Staat – seit 1822 direkt durch den König und ab 1867 durch die Bezirksregierungen – genehmigt werden mussten. Im Rahmen dieser Fälle entstand ein mal mehr mal weniger intensiver schriftlicher Austausch zwischen Antragstellerinnen und Antragstellern, Verwaltungsbehörden (Regierungspräsidium, Landratsamt, Bürgermeisteramt, Amtsgericht, Amt, Innen- und Justizministerium, Standesamt) und je nach Kontext weiteren Personen (z.B. Familienangehörige, Namensträger) und Institutionen (u.a. Polizeibehörden, Pfarrgemeinden, Fürsorgeheime). Unter den informationsliefernden und entscheidenden Behörden zirkulierte eine Vielzahl an Schreiben, Protokollen, Formularen, Urkunden und Aktennotizen. Diese Aktenbestände, deren Überlieferung sich überwiegend in den Archivbeständen der Landes- und Kommunalarchive befindet, bilden die Quellengrundlage der Arbeit. Ein weiterer, ergänzender Teil des Quellensamples ergibt sich aus den zeitgenössischen Expertendiskursen, wie sie sich etwa in juristischen Fachzeitschriften und Ratgeberpublikationen für die Verwaltungspraxis darstellen.
Analytisch sind zwei Perspektiven zentral: einerseits die der Antragstellerinnen und Antragsteller und die Frage danach, welche Anlässe und Gründe sie für Namensänderungen zu Protokoll gaben und wie sie diese in der Interaktion mit der Bürokratie im Rahmen ihrer Möglichkeiten beschrieben und plausibilisierten. Ging es vorranging um die Ablehnung des bisherigen Namens oder um die Annahme des neuen Namens? Sollte ein Name verdeutscht, die Schreibweise geändert oder eine vermeintlich falsche Eintragung im Kirchenbuch bzw. Standesamtsregister korrigiert werden? Dem gegenüber stehen die Perspektive der Verwaltung und die Bearbeitungspraxis der Änderungsgesuche. Welche Behörden, (staatliche und nichtstaatliche) Institutionen und Personen wurden involviert, wie äußerte sich die Kommunikation zwischen ihnen und wann setzte politische Steuerung ein? Wie zeigt sich in diesem Feld das Verhältnis zwischen populärer Praxis und politischer Gesellschaftsordnung, vermittelt durch die staatlichen Verwaltungen? Welche Informationen und Dokumente von und über Antragstellerinnen und Antragsteller wurden angefordert und in welchen Kreisen zirkulierten sie? Wie wurden sie gelesen und für den Entscheidungsprozess genutzt? In übergeordneter Weise stellt sich die Frage, welche Rolle dabei Kategorien wie Identität, Herkunft, Familie, Verwandtschaft, Geschlecht, Volk, Rasse, Nation und Staatsbürgerschaft implizit und explizit in der Kommunikation zwischen den Akteuren einnahmen und wie sich diese im Zeitverlauf wandelten.
Theoretisch orientiert sich die Forschung an Impulsen aus der Anthropology of Bureaucracy und der Kulturgeschichte der Verwaltung. Verwaltung und Behörden werden in dieser Lesart nicht als neutrale und rationale Ausführer von Gesetzesvorgaben gesehen, sondern vielmehr als Orte lokaler Herrschaftsausübung aber auch des Eigen-Sinns und der Widerständigkeit konzipiert, in denen mit den „little tools of knowledge“ (Peter Becker) – dem Verfassen, Dokumentieren, Zirkulieren und Archivieren von Informationen – aktiv Wissen produziert, interpretiert und transformiert wird. In dieser Perspektive werden Subjekte, soziale Beziehungen und ‚Wirklichkeit‘ nicht bloß repräsentiert, sondern vielmehr erst geschaffen und immer wieder verändert. Das Sprechen und Aushandeln von Namen und Namenspraktiken als eines der zentralen „state projects of legiblity“ (James Scott) geben in diesem Gefüge weitreichende Erkenntnisse über (alltags)kulturelle und soziale Ordnungen sowie Wissens- und Machtbestände.