Franz-Josef Jakobi

Das Krameramtshaus im 19. und 20. Jahrhundert

Wechselnde Nutzungen und Provisorien

Auch nach den einschneidenden Veränderungen, die die Zeit des Übergangs von den alteuropäischen Staats- und Ständeordnungen zu den neuen politischen, rechtlichen und sozialen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts mit sich gebracht hat, sind alte Traditionen und Strukturen keineswegs schlagartig verschwunden. Vor allem die in den krisenhaften Entwicklungen des 18. Jahrhunderts überlebensfähig gebliebenen örtlichen Ausprägungen ganzheitlicher Lebensformen, wie es die Gilden, Zünfte und Bruderschaften waren, wirkten bis tief ins 19. Jahrhundert hinein weiter. Das galt in Münster besonders für die in dieser Zeit bedeutendste der alteingesessenen Kaufleute-Gemeinschaften, das Krameramt.Dennoch muß man feststellen, daß die tiefgreifenden Wandlungsprozesse der Zeit um 1800 alsbald auch für diesen Teil der gewachsenen Strukturen in der Stadt wirksam wurden. Ein Symptom für das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Ära mit völlig gewandelten Rahmenbedingungen für das Verhältnis der Münsterschen Kaufleute zu ihrer Vaterstadt ist darin zu sehen, daß das Krameramtshaus nach 1810 nur noch kurze Zeit Heimstatt der Kaufmannschaft bleiben konnte.

1810–1842

Kaufmannschaft und Krameramtshaus nach der Zwangsauflösung des Krameramtes

Giebel
Eine der ältesten Aufnahmen vom Krameramtshausgiebel. Sie entstand zwischen 1879 und 1896. Ausgewaschene Backsteinfugen und verwitterte Zierformen an den Werksteinteilen machen die Dringlichkeit der Restaurierung deutlich
© Westfälisches Amt für Denkmalpflege; Alpers/Hannover

Nach der Einbeziehung Münsters in das französische Staatsgebiet – bzw. zunächst in das des französischen Satellitenstaates Großherzogtum Berg hatte mit dem geltenden franzosischen Recht die alte fur die Stadt auch in der Zeit der preußischen Besetzung weiter wirksame Gildeordnung ihre Rechtsgrundlage verloren. Wie die anderen Gilden und Bruderschaften der Handwerker und Gewerbetreibenden war auch das Krameramt mit der entsprechenden Anordnung des Comte de Beugnot, des kaiserlichen Kommissars im Großherzogtum Berg, vom 20. Februar 1810 aufgelöst worden. Das Krameramtshaus gehörte zu den von der französischen Besatzungsmacht beschlagnahmten Vermögenswerten und unterstand in der Folgezeit der staatlichen Domänen-Administration, die daraus offenbar durch Vermietung gewisse Einkünfte erzielte.

Die Preußen, die nach der Flucht der französischen Soldaten und Beamten im Spätherbst 1812 das von ihnen schon 1802 okkupierte und bis 1806 verwaltete Fürstbistum sowie seine Hauptstadt wieder in Besitz genommen hatten, ließen in ihren neuen Westprovinzen nach 1815 die von den Franzosen etablierte Rechts- und Verwaltungsorganisation in Kraft. Für Münster hieß das, daß die Auflösung der "Ämter" nicht revidiert wurde; das beschlagnahmte Vermögen, vor allem die Amtshäuser, ging auf die preußische Provinzialverwaltung über. Die alte Kramergilde hatte somit seit dem 20. Februar 1810 definitiv aufgehört zu bestehen.

Auch wenn auf diese Weise die rechtliche Körperschaft 'Krameramt' nicht mehr existierte, so bestand doch der soziale Körper zunächst weiter, der ihre Existenz in der Stadt faktisch ausgemacht hatte, nämlich die Gemeinschaft der Krameramtsverwandten. Fortbestand hatte vor allem der Anspruch jedes einzelnen Mitglieds der Gilde – es waren nach Ausweis der Auflistung von 1823 im Jahre 1810 142 an der Zahl – am Gemeinschaftsvermögen des Krameramts, d. h. im wesentlichen am Krameramtshaus. Die Geschicke des Hauses blieben also auch nach der Auflösung der Gilde bis auf weiteres noch mit denen der Kaufmannschaft verbunden.

Nach der Konsolidierung der Verhältnisse in der neuen preußischen Provinz Westfalen seit 1815/16 – seit in Münster die preußischen Verwaltungsbehörden ihre kontinuierliche Arbeit aufgenommen hatten – traten die ehemaligen Krameramtsgenossen denn auch ein letztes Mal in Aktion: im Sommer 1818 wandten sie sich an die neue Königlich Preußische Regierung in Münster mit der Bitte um Rückgabe des Krameramtshauses und der Verwaltung ihres Vermögens, das jetzt noch einmal nach Soll und Haben beziffert wurde. Unmittelbar vorausgegangen war offenbar die Einbeziehung der Verwaltung des Krameramtshauses in die geordnete Amtsführung der preußischen Bezirksregierung, denn in diesem Jahre schloß der Domänenrentmeister A. Geisberg mit der gerade gegründeten Musikalischen Gesellschaft, der Vorläuferin des Musikvereins, einen Mietvertrag für die Nutzung des Erdgeschosses mit großem Saal und Steinwerk.

Dieses Mietverhältnis blieb bestehen, bis es zum 1. März 1824 von den Besitzern des Hauses gekündigt wurde. Eine erste, fast sechsjährige Wirkphase des für das kulturelle Leben Münsters im 19. und 20.Jahrhunderts so bedeutsamen Musikvereins fand also im Krameramtshaus statt. Das Haus spielte somit wie schon vor 1775, bevor das Komödienhaus seiner Bestimmung übergeben wurde, kurzfristig wieder eine Rolle im Theater- und Kulturleben der neuen Provinzialhauptstadt.

Besitzer des Krameramtshauses, die neu über seine Nutzung verfügen konnten, waren im Jahre 1823 wieder die früheren, nämlich die Mitglieder des ehemaligen Krameramtes. Die Kündigung des Mietvertrages mit der Musikalischen Gesellschaft, die am 30. August 1823 erfolgte, gehörte zu den Vorbereitungen für den noch im gleichen Jahr abgewickelten Verkauf des Hauses. Dieser Verkauf wurde möglich und erforderlich sozusagen als letzte Rechtshandlung der Krameramtsgenossen, nämlich zur Auflösung des Gemeinschaftsvermögens.

Er stand im Zusammenhang mit der von der preußischen Provinzialverwaltung und ihren nachgeordneten Dienststellen in einem vielschichtigen Verfahren zu Ende gebrachten Liquidation der Vermögensmasse der säkularisierten bzw. aufgelösten Institutionen und Vereinigungen in den neuen Territorien. In Münster waren daran die ehemaligen Gilden selbst, die Stadtverwaltung mit dem Dirigierenden Bürgermeister Schweling an der Spitze, die Bezirksregierung und hier besonders der Domänenrentmeister A. Geisberg sowie das Oberpräsidium beteiligt. Die das ehemalige Krameramt betreffenden Vorgänge zogen sich insgesamt über einen längeren Zeitraum hin; sie sind geeignet, im Wechselspiel der handelnden Personen exemplarisch die Ablösung der alten durch die neuen Strukturen zu dokumentieren.

Der schon erwähnte Vorstoß der Krameramtsgenossen von 1818 blieb zunächst ohne Erfolg. Es sollte noch ca. fünf Jahre dauern, bis das Problem der Auflösung der 'Amter' auch vermögensrechtlich endgültig abgewickelt war. Der komplexe Vorgang wurde für die neuen preußischen Westprovinzen insgesamt durch eine Königliche Kabinettsordre vom 31. Mai 1823 in Gang gesetzt. Darin wurde verfügt, daß "in den Provinzen des ehemaligen Großherzogtums Berg das Vermögen der aufgehobenen Zünfte den ehemaligen Mitgliedern derselben, unter der Verpflichtung, die unbereinigten Zunft- und Gildeschulden daraus zu bezahlen, zur Verfügung zurückgegeben werden soll.

Es erfolgte daraufhin – veranlaßt durch eine Anweisung der Königlich Preußischen Regierung in Münster an den Dirigierenden Bürgermeister Schweling und durchgeführt durch die Stadtverwaltung – eine umfassende Bestandsaufnahme aller die ehemaligen Gilden und Handwerkerbruderschaften betreffenden Vermögensangelegenheiten, und zwar bezogen auf das Jahr 1810. Für das Krameramt wie für alle anderen Gilden wurde außerdem der Mitgliederbestand von 1810 aufgelistet; die seither Verstorbenen wurden nachgewiesen. Die Außenstände und die Schulden wurden bilanziert. Nach Möglichkeit führte man durch Aufrechnungen und Ablösungen einen Ausgleich der Bilanzen herbei. Für das Krameramt stand als erheblicher Positivposten der Besitz des Amtshauses zur Disposition, nachdem auch für dieses Objekt mit Hilfe der penibel gesammelten Belege der preußischen Verwaltung die seit 1810 entstandenen Ausgaben und Einnahmen aufgerechnet waren. Zu den Ausgaben gehörten auch Reparaturmaßnahmen, die in den Jahren 1821/22 durchgeführt wurden, u. a. die Erneuerung der Fenster.

Das Haus selbst war, wie aus dieser Überlieferung und aus anderen Quellen hervorgeht, in der Zwischenzeit neben der schon erwähnten Vermietung an den Musikverein so weiter genutzt worden, wie das auch schon in früheren Epochen der Fall gewesen war: es bildete als repräsentatives Gebäude im Stadtzentrum mit dafür bestens geeigneten Einrichtungen den Rahmen für die großen Festlichkeiten verschiedenster bürgerschaftlicher Vereinigungen und Gemeinschaften, angefangen bei der Großen Schützenbruderschaft über verschiedene, 'Straßen-Peter' genannte Nachbarschafts-Bruderschaften, die Catharinen- und Johannis-Bruderschaft bis hin zum vornehmen Zwei-Löwen-Club bzw. seinem Vorgänger, der Schützenwäller-Gesellschaft. Ein besonders anschauliches Bild von dieser Art altmünsterschen Gesellschaftslebens vermittelt die Beschreibung des großen, von etwa 300 Personen besuchten Fastnachtsballes des Zwei-Löwen-Clubs vom 20. Februar 1820.

Diese Tradition der funktionalen Nutzung des Gebäudes als Zentrum geselligen und gesellschaftlichen Lebens der Bürgerschaft setzte sich also über die radikalen Veränderungen der beiden ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinweg weiter fort und hatte noch bis in die 1830er Jahre hinein Bestand.

Die sehr viel weiter zurückreichende Tradition der Kramergilde dagegen erlosch – wie schon erwähnt – endgültig im Jahre 1823. Auf einer letzten Versammlung der ehemaligen Amtsverwandten am 12. Juni dieses Jahres wurden drei Deputierte bestimmt, die beauftragt und bevollmächtigt waren, das Haus zu verkaufen. Nach zunächst vergeblichen Bemühungen, einen höheren Preis zu erzielen, wurde das Gebäude bis auf wenige Inventarstücke schließlich am 12. April 1824 an ein Konsortium von vier Privatpersonen, bestehend aus den Kaufleuten Johannes Hassenkamp, Clemens August Brockmann und Ignaz Hüger sowie dem Buchhändler Johann Hermann Hüffer, zu einem Kaufpreis von 4.800 Talern veräußert.

Hueffer
Johann Hermann Hüffer, 1784–1855; Oberbürgermeister 1842–1848, Mitbegründer des Vereins der Kaufmannschaft von 1835
© Stadtarchiv Münster, Porträtsammlung

Das Haus blieb danach in Privatbesitz bis zum Jahr 1842. Allerdings wurden die Besitzanteile anscheinend schon bald breiter gestreut durch die Ausgabe von Anteilsscheinen im Wert von 100 Talern. Es bildete sich so eine Art frühe Aktien-Gesellschaft aus schließlich annähernd 50 ‘Konsorten’. Genutzt wurden während dieser Zeit Keller und Dachboden als vermietete Lagerräume, unter anderem durch den Miterwerber Johann Hermann Hüffer. Das Erdgeschoß mit dem Gildesaal und dem Steinwerk stand weiterhin regelmäßig den oben angesprochenen gesellschaftlichen Veranstaltungen zur Verfügung.

Während so die traditionelle und exklusive Gemeinschaft der Krameramtsgenossen mit diesem letztmaligen gemeinsamen Handeln aus der Geschichte Münsters verschwand, traten gleichzeitig die in der Stadt in Handel und Gewerbe Tätigen bereits in einer neuen, den gewandelten politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten besser angepaßten Organisationsform auf den Plan: in Gestalt des Vereins der Kaufmannschaft zu Münster von 1835. Um die Gründung dieses Vereins hatte sich seit den frühen 1820er Jahren unter anderem auch einer der Käufer des Krameramtshauses intensiv bemüht, eben der schon genannte Verlagsbuchhändler Johann Hermann Hüffer. Nach langem und zähem Ringen mit den preußischen Behörden um die Genehmigung eines Vereinsstatuts konnte der neue Zusammenschluß allerdings erst im Oktober 1835 seine öffentliche Tätigkeit aufnehmen. Als Vereinszweck wurde in der Satzung, die in der vom preußischen König Friedrich Wilhelm III. genehmigten Fassung im Amtsblatt. der Königlichen Regierung zu Münster am 10. Oktober 1835 verkündigt wurde, „die Beförderung des Interesses des Handels im allgemeinen und der Kaufmannschaft der Stadt Münster insbesondere” angegeben.’

Im Gegensatz zu der nach der alten Gildeordnung streng reglementierten Aufnahme in das Krameramt und der damit verbundenen Zulassung zum Gewerbe konnte nunmehr, im Zuge der Gewerbefreiheit, „jeder in Münster wohnende Handeltreibende, ohne Rücksicht auf Religion und Geschlecht, sowie wer Disponent einer Handlung ist”, Mitglied werden. Der Vorstand hatte satzungsgemäß aus „1. einem Banquier, 2. einem Materialwarenhändler, 3. einem Weinhändler, 4. einem Ellenwarenhändler und 5. drei Mitgliedern, deren Wahl an keinen besonderen Geschäftszweig gebunden ist” zu bestehen. Der Verein hatte 152 Gründungsmitglieder. Als Versammlungslokal diente das Krameramtshaus. Das Recht, den Kaminsaal zu Vorstandssitzungen und zu wichtigen Terminen zu nutzen, besteht im übrigen bis heute. Diese Reminiszenz an die alte Gildetradition sollte allerdings schon bald die einzige sein, durch die das Gebäude mit der gesellschaftlichen und ökonomischen Gruppierung in der Stadt, der sie jahrhundertelang als Heimstatt gedient hatte, unmittelbar verbunden blieb. Im Jahre 1842 ging das Haus in den bis heute nicht unterbrochenen Besitz der Stadt Münster über.

1842–1989

Das Krameramtshaus als städtisches Gebäude

Als die Stadt Münster am 23. Dezember 1842 den Kaufvertrag mit ‚,Hassenkamp und Konsorten”, d. h. mit den Anteilseignern des Krameramtshauses bzw. deren Bevollmächtigen, schloß und das Gebäude für 6.000 Taler erwarb, begann die gegenwärtig noch andauernde Phase in der Geschichte des Hauses, in der es für wechselnde öffentliche Aufgaben genutzt bzw. zur Verfügung gestellt wurde. Insgesamt fünfmal erforderte das unter anderem auch erhebliche bauliche Veränderungen im Inneren.

Die jeweils ganz unterschiedlichen Zweckbestimmungen – einschließlich der Nutzung als Teilgebäude der Stadtbücherei – sollten sich nach mehr oder weniger kurzer Zeitspanne als unbefriedigende Provisorien erweisen, die auf Dauer weder den jeweiligen Nutzungsbedürfnissen noch der Tradition und Bedeutung des Hauses in der Münsterschen Stadtgeschichte gerecht zu werden vermochten.

1842–1873

Nutzung als Pfandleihanstalt

Ausschlaggebend für den Erwerb des großen Gebäudes und die Aufbringung der nicht unerheblichen Kaufsumme durch den Magistrat der Stadt sowie für die dazu erforderliche Genehmigung durch die Stadtverordnetenversammlung und die Königliche Bezirksregierung war wohl das Zusammentreffen zweier Faktoren: die Stadt brauchte für den vorgesehenen Nutzungszweck dringend Räumlichkeiten in entsprechender Größenordnung, und die vorgesehene Nutzung versprach einen erheblichen Gewinn abzuwerfen. Erworben wurde das Haus nämlich, um darin die städtische Pfandleihanstalt unterzubringen. Diese Institution war im Jahre 1828 zusammen mit der städtischen Sparkasse gegründet worden; in ihr wurden die als Sicherheit für Kredite hinterlegten Sachgüter aller Art aufbewahrt und verwaltet. Bereits wenige Jahre nach Eröffnung der Anstalt im alten Stadtsekretariat, einem hinter dem heutigen Rathauskomplex gelegenen Gebäude, war der dort verfügbare Raum völlig überfüllt. Die steigende Inanspruchnahme dieser neuen von der Stadt abgesicherten Finanzierungsmöglichkeit kann als Zeichen für die im Rahmen der Gewerbefreiheit sich bietenden wirtschaftlichen Chancen angesehen werden, für deren Nutzung auch denjenigen, die nicht über hypothekarisch zu belastenden Grundbesitz verfügten, eine solide Kreditfinanzierung offenstand. Die Stadt mußte also – wollte sie die lukrative und für die Prosperität in den eigenen Mauern vorteilhafte Entwicklung weiter fördern – nach einer funktionsgerechteren Unterbringung der Pfandleihanstalt Ausschau halten. Schon seit 1831 wurden gutachtliche Stellungnahmen verfertigt und neue Unterbringungsvorschläge diskutiert’. Schließlich war im November 1843 nach offenbar schwierigen Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit den ehemaligen Käufern des Krameramtshauses bzw. mit deren Erben und den sonstigen Anteilseignern der Erwerb des Hauses unter Dach und Fach. Die erforderlichen Umbaumaßnahmen, die zusätzlich zu der Kaufsumme noch einmal 1.400 Taler erforderlich machten, konnten offenbar erst 1844 durchgeführt werden.

Das Unternehmen warf, wie die weitgehend erhalten Bilanzen ausweisen, Jahr für Jahr steigende Gewinne ab, die unter anderem auch den Beschluß zu weiteren Restaurierungsmaßnahmen erleichtert haben dürften. Einziger konkreter Hinweis darauf ist allerdings lediglich die Jahreszahl 1865 am Giebel des Hauses, die auf entsprechende Arbeiten hindeutet.

Wenn die neue Nutzung des altehrwürdigen Gebäudes auch Gewinn abwarf und im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs seit der Mitte des 19. Jahrhunderts positiv erscheinen mochte, auf den Erhaltungszustand vor allem des wertvollen Interieurs wirkte sich der Leihhaus-Betrieb offenbar keineswegs vorteilhaft aus. Als die städtische Pfandleihanstalt 1872 aufgelöst und das Krameramtshaus geräumt wurde, waren nicht nur für die auch dann bereits wieder vorgesehene neue Nutzung erneut Umbauarbeiten, sondern auch eine Gesamtrenovierung erforderlich.

1873–1908

Domizil des Westfälischen Provinzialvereins für Wissenschaft und Kunst

Im Gründerzeit-Boom der frühen 1870er Jahre, nach dem Sieg der preußischen Armeen und den gigantischen französischen Kriegsentschädigungen, die auch in Münster zu erheblich anwachsenden Kommunalausgaben führten, war die Form der dinglichen Sicherung von Krediten durch Pfänder wohl nicht mehr zeitgemäß. Das Krameramtshaus wurde frei für eine neue Verwendung, und nunmehr brachten sich die Stimmen zur Geltung, die schon seit längerem eine angemessene Unterbringung für die seit Gründung des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens im Jahre 1829 und des Westfälischen Kunstvereins im Jahre 1831 gesammelten Kunstwerke und Sachzeugnisse für die Geschichte Münsters und des Münsterlandes sowie für die in den Bibliotheken beider Vereine angewachsenen Buchbestände forderten. Vor allem der Kunstverein, der darüber hinaus auch noch geeignete Räume für die von ihm initiierten und betreuten kunstpädagogischen Aktivitäten suchte, hatte im Zusammenhang mit der Auflösung der Pfandleihanstalt neben der generellen Forderung nach Einrichtung eines Landesmuseums nach dem Beispiel anderer preußischer Provinzen als Zwischenlösung die Anmietung des Krameramtshauses propagiert. Alle für die Errichtung des Landesmuseums wirkenden Kräfte, nicht nur die in Münster, sondern auch die in der gesamten Provinz, erhielten schließlich in dem 1872 gegründeten Westfälischen Provinzialverein für Wissenschaft und Kunst eine gemeinsame und von offizieller Seite geförderte Dachorganisation.

Der Magistrat, der sich dem Begehren des Kunstvereins gegenüber noch ablehnend verhalten und zunächst Möglichkeiten anderer Nutzungen für das Gebäude geprüft hatte, kam nun zu einer anderen Haltung: noch im Jahre 1872 wurde durch Magistrat und Stadtverordnetenversammlung eine Kommission gebildet, die Vorschläge für die Vermietung des Hauses an den neuen Verein sowie für die erforderlichen Umbaumaßnahmen erarbeiten sollte. Der Mietvertrag zwischen der Stadt und dem Verein wurde am 27. Oktober 1873 abgeschlossen. Es sollte auch diesmal wieder geraume Zeit dauern, bis das Haus wirklich seiner neuen Bestimmung übergeben werden konnte. Ende 1874 waren die für die Bedürfnisse des Provinzialvereins notwendigen Umbaumaßnahmen beendet. Zu einer grundlegenden Renovierung, vor allen Dingen der Vertäfelung des Steinwerks, wie sie gutachtlich nachdrücklich gefordert worden war, konnte man sich angesichts der Höhe der Kosten allerdings nicht entschließen. Aus demselben Grunde scheiterte auch ein weiterer Vorstoß aus dem Jahre 1884. Erst 1895/96 ist es schließlich wenigstens zu einer Restaurierung des Giebels gekommen, bei der beinahe alle Hausteine ausgetauscht worden sind.

Der Provinzialverein hatte durch die Anmietung des Krameramtshauses erhebliche Kosten. Die Jahresmiete, die der Stadt zu entrichten war, betrug 1.200 Mark, und für Reparaturen unter fünf Mark mußte er selbst aufkommen. Dieses finanzielle Engagement ist durchaus als Zeichen dafür zu werten, daß man in einer Stadt wie Münster während der wilhelminischen Ära bereit war, für Kunst und Kultur einiges aufzuwenden, und zwar nicht nur punktuell, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg. Daß sich das über mehr als dreißig Jahre hinziehen würde, war allerdings 1872/73 nicht abzusehen. Es sollte nämlich noch bis zum Jahre 1908 dauern, ehe das immer wieder geforderte Landesmuseum endlich fertiggestellt und eine Beendigung des Provisoriums Krameramtshaus ins Auge gefaßt werden konnte.

In der Zwischenzeit gewährte der Provinzialverein einer Reihe von Untermietern Quartier, die einzelne Räume des Krameramtshauses im Sinne des Vereinszwecks mitnutzen konnten. Nach der Kündigung des Mietvertrages im Frühjahr 1907 führte der Vereinsvorsitzende Prof. Niehues sie in einem Schreiben an die Stadt auf, in dem er sich dafür verwendete, ihnen auch weiterhin Unterkunft zu gewähren; genannt sind unter anderem ausdrücklich der Vaterländische Frauenverein mit Vorstandssitzungen und Ausstellungen, die Kunstgenossenschaft mit regelmäßigem Zeichenunterricht und eine private Malschule (Fräulein Schöning). Einige der Mietverhältnisse, vor allem die mit der privaten Malschule Schöning, wurde bis in die zwanziger Jahre hinein fortgesetzt.

Trotz des Gewinns, den die Vermietung des Hauses für die Stadt abwarf, und trotz des durch die Mieter und Nutzer im Hause versammelten kunst- und kulturgeschichtlichen Sachverstands, kam die über 30-jährige Phase der Vermietung des Krameramtshauses an den Provinzialverein dem Erhaltungszustand des Gebäudes kaum zugute. Zwar wurde das eine oder andere an notwendigen Großreparaturen ausgeführt, aber vor allem für das wohl wertvollste Ausstattungsgut, die Holzvertäfelung des Steinwerks, bestand akute Gefahr. Die Experten des Provinzialvereins gingen schließlich davon aus, daß eine Erhaltung vor Ort – vor allen Dingen auch angesichts der vorgesehenen Nachnutzung als Büchereigebäude – nicht gewährleistet sei und nahmen die Vertäfelung bei der Verlagerung der Sammlungen des Provinzialvereins in das Landesmuseum gleich mit. Über die Frage, wie mit der Vertäfelung an ihrem ursprünglichen Platz weiter zu verfahren sei, entspann sich daraufhin eine heftige, zum Teil öffentlich geführte Auseinandersetzung. Es sollte bis zum Jahre 1913 dauern, ehe die Vertäfelung, und zwar dann in hervorragend restaurierter Form, an ihrem Platz wieder hergestellt war. Die Stadt hatte diesmal die erheblichen Gesamtkosten von über 4.500 Mark nicht gescheut, die erforderlich waren, um die uns heute grotesk anmutende Minderung des Gesamtkunstwerks Krameramtshaus durch den endgültigen Ausbau der Holzvertäfelung zu verhindern.

1909–1945

Nutzung als Büchereigebäude bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

Eingang Lesehalle
Eingang des Krameramtshauses als Lesehalle, vor 1933
© Stadtarchiv Münster, Bildarchiv Werbe- und Verkehrsamt

Als der Provinzialverein nach Fertigstellung des neuen Landesmuseums mit Schreiben an den Magistrat der Stadt vom 22. April 1907 den Mietvertrag für das Krameramtshaus zum 1. Mai 1908 kündigte, stellte sich wie schon 1872 für die Stadt wiederum das Problem der sinnvollen Nutzung des Gebäudes. Auch in diesem Falle war sofort ein gewichtiger Interessent zur Stelle, für den die Möglichkeit wie gerufen kam, seine Raumbedürfnisse befriedigen zu können, und der die Stadtverwaltung der Suche nach einem adäquaten Nutzungskonzept enthob. Es handelte sich um den 1906 gegründeten Katholischen Bücher- und Lesehallenverein, einen stadtweiten Zusammenschluß der verschiedenen vom Borromäusverein getragenen Pfarrbüchereien. Der Vorsitzende, der Historiker und Universitätsprofessor Dr. Josef Otto Plaßmann, wandte sich noch im Jahre 1908 an den Magistrat der Stadt mit dem Gesuch, das Krameramtshaus nach Freiwerden für die Zwecke des Lesehallenvereins und damit der ‘Volksbildung’ im Sinne der katholischen Volksbildungsbewegung zur Verfügung zu stellen. Der Magistrat, der darin eine sinnvolle Fortsetzung der kulturellen Nutzung durch den Provinzialverein sehen mochte – zumal ja die schon erwähnten Mitnutzungen weiterhin bestehen bleiben konnten -, ging auf den Vorschlag bereitwillig ein. Ende März 1909 wurde bereits ein diesbezüglicher Beschluß der Stadtverordnetenversammlung gefaßt und im Mai konnte der Vertrag abgeschlossen werden. Der Verein zog mit seinen Buchbeständen, die bislang in der Martinischule provisorisch untergebracht gewesen waren, in das Erdgeschoß des Krameramtshauses ein. Der Gildesaal und der seiner Vertäfelung beraubte Kaminsaal wurden als Büchermagazin und Leseraum intensiv genutzt. Der nach dem Ausbau der Vertäfelung notdürftig für den neuen Zweck hergerichtete Kaminsaal wurde dem Verein allerdings zu dessen Kummer im Zuge der Restaurierung von 1912/13 als Magazinraum wieder entzogen. Er mußte in der restaurierten Form den repräsentativen Zwecken der das Gebäude mitnutzenden Vereine, unter anderem auch des Vereins der Kaufmannschaft und des Altertumsvereins, verfügbar gehalten werden und konnte nur als Lesesaal mitgenutzt werden.

Volksbildung durch Lesen, das war ein weithin anerkanntes Anliegen, vor allem auch bei den katholischen Bevölkerungsteilen Preußens zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist aber dennoch bemerkenswert, daß der Magistrat der Stadt nicht nur auf Mieteinnahmen gänzlich verzichtete – der lediglich symbolisch gemeinte Mietpreis betrug 1 Mark jährlich -, sondern dem Lesehallenverein sogar einen jährlichen Zuschuß für die Deckung seiner Kosten zahlte. Nachdem die Stadt zuvor mit der Vermietung des Krameramtshauses an den Provinzialverein – er darf durchaus als Interessenvertretung der besitz- und bildungsbürgerlichen Oberschicht der Gesellschaft betrachtet werden – erhebliche Einnahmen erzielt hatte, trat sie nunmehr für die Förderung der Interessen der bildungshungrigen Unterschichten ein, der Gesellschaftsschichten, die in der Klassengesellschaft des wilhelminischen Deutschland benachteiligt, andererseits aber von intensiven Emanzipationsbestrebungen erfüllt waren. Sicher ist darin auch ein Indiz für den sich anbahnenden politisch-sozialen Umwälzungsprozeß zu sehen, der in den revolutionären Ereignissen von 1918/19 seinen Abschluß fand. Der Bücherei- und Lesehallenbetrieb konnte unter diesen Konditionen eine kontinuierliche Ausweitung verzeichnen. Die Benutzerzahlen und die Buchanschaffungen nahmen rapide zu, so daß schon bald Raumprobleme auftraten und Erweiterungspläne nach sich zogen’.

Kurzfristige Unterbringung der Reichsbankstelle Münster

Diese Erweiterungspläne des Lesehallenvereins konnten zunächst jedoch nicht zum Tragen kommen, denn im Jahre 1923 trat unvermittelt eine fast zweijährige Unterbrechung der Nutzung des Krameramtshauses als Büchereigebäude ein. Die Reichsbank suchte für ihre im Zuge der Inflationswirren ausgeweitete Geschäftstätigkeit vor Ort ein geeignetes Gebäude. Man verfiel auf das Krameramtshaus vor allem auch deswegen, weil der Verein die in der Inflationszeit astronomische Höhen erreichenden Betriebskosten nicht mehr aufwenden und die Stadt die Zuschüsse nicht mehr zahlen konnte. Nachdem sich Prof. Plaßmann als Vorsitzender des Lesehallenvereins mit dem Ausweichquartier für die Bücherei sowie für den Leih- und Lesebetrieb, dem Gebäude der ehemaligen Servatii-Mädchenschule, einverstanden erklärt hatte, wurde am 5. Dezember 1923 der Mietvertrag mit der Reichsbank abgeschlossen. Der Mietpreis betrug 3.000 Goldmark jährlich, jeweils in Monatsraten zu zahlen und auf den entsprechenden Papiergeldwert umzurechen. Die Motivation der Stadt für den Vorzug des potenten Mieters gegenüber dem Zuschußbetrieb Lesehalle in Zeiten der Not liegt auf der Hand.

Die Episode, über die sich keine weiteren Informationen in den städtischen Akten erhalten haben, währte nur kurze Zeit. Laut dem städtischen Verwaltungsbericht kehrte die Bücherei schon im Jahre 1925 wieder in das Krameramtshaus zurück. Ob gelegentlich der Neuvermietung des Gebäudes an die Reichsbank die Nutzung des Obergeschosses durch private Mieter und die Vermietung der Kellerräume beendet wurde und ob für die Bücherei bei ihrer Rückkehr die erforderliche räumliche Ausweitung auf das gesamte Gebäude vorgenommen wurde, läßt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls ist von Fremdnutzungen später nicht mehr die Rede. Die Jahre 1933 bis 1935 brachten für den Büchereibetrieb im Krameramtshaus eine Veränderung der Rechtsform mit sich: sie wurde im Zuge der ‘Gleichschaltung’ des öffentlichen Lebens in eine ‘städtische Volksbücherei’ umgewandelt. Uber die Einzelheiten sind wir nur unzureichend unterrichtet, doch hat sich diese Statusänderung offenbar keineswegs negativ auf die Entwicklung der Buchbestände und des Leihverkehrs ausgewirkt. Schon bald scheint nämlich ein umfangreiches Ausbau- und Restaurierungskonzept in Angriff genommen worden zu sein, das die Einbeziehung des Nachbargebäudes Alter Steinweg Nr. 6 in die Bibliothek und die Errichtung eines Anbaus an der Nordwestecke der beiden Gebäude vorsah. Für die Maßnahme war immerhin die erkleckliche Gesamtsumme von 80.000 Reichsmark bereitgestellt. Alle diese Vorhaben, die im Jahre 1938 bereits bis zur Einrüstung des Nordgiebels gediehen waren, kamen jedoch nicht mehr zur Ausführung; sie fielen den Kriegsvorbereitungen und den im Zusammenhang damit verfügten Einsparungen in den öffentlichen Haushalten zum Opfer.

Krameramtshaus Weltkrieg
Das Krameramtshaus vor dem Zweiten Weltkrieg
© Stadtarchiv Münster, Bildarchiv Werbe- und Verkehrsamt

Bevor es soweit gekommen war, bot ein besonderes Jubiläumsereignis Anlaß, das Krameramtshaus nicht als Büchereigebäude, sondern in seiner ursprünglichen Zweckbestimmung, als Heimstatt der münsterschen Kaufleute, in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken: gemeint ist das 100-Jahre-Jubiläum des Vereins der Kaufmannschaft zu Münster, das am 21. Oktober 1935 festlich begangen wurde. Ein Festakt im Rathaus, eine Begehung des Krameramtshauses durch die Festgäste und ein Festmahl bildeten die Veranstaltungsfolge. Der Vereinsvorsitzende Hölscher stellte in seiner Festrede die Kaufmannstradition in Münster und das jahrhundertelang enge Zusammenwirken zwischen den Kaufleuten, dem Rat und der Verwaltung der Stadt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, während von den Parteigrößen mit dem Regierungspräsidenten Klemm und dem Oberbürgermeister Hillebrand an der Spitze Propagandareden über die Wirtschaftsorganisation im Führerstaat gehalten wurden. Der Verein der Kaufmannschaft, der sich bis dato dem Gleichschaltungsdruck erfolgreich widersetzt hatte, entzog sich solchen und weiteren Instrumentalisierungsbemühungen, indem er seine öffentliche Tätigkeit bis zum Kriegsende weitgehend einstellte.

Während der Kriegsjahre ist das Krameramtshaus – wenn auch in der Statik insgesamt schwer erschüttert – im Gegensatz zu fast allen Innenstadt-Gebäuden äußerlich unversehrt stehen geblieben. Sogar der Büchereibetrieb konnte mit starken Einschränkungen und nach Auslagerung eines großen Teils der Bestände fortgeführt werden. Ausgelagert wurde schon 1942 zusammen mit dem sonstigen wertvollen Kunstbesitz der Stadt die Vertäfelung des Kaminsaals, die in Schloß Wöbbel in Lippe den Krieg zwar stark restaurierungsbedürftig, aber ohne wesentlichen Substanzverlust überstanden hat.

Nachkriegszeit und neue Konzeption nach dem Wiederaufbau: Städtisches Kulturzentrum

Zerstörungen Bombenkrieg
Blick vom Turm der Lambertikirche auf das Krameramtshaus nach den Zerstörungen des Bombenkrieges
© Stadtarchiv Münster, Bildarchiv Werbe- und Verkehrsamt

Obwohl das Krameramtshaus die Schrecknisse des Bombenkrieges äußerlich unbeschädigt überstanden hatte, sollte es nach Kriegsende noch fast genau sechs Jahre dauern, ehe es wieder seiner alten Bestimmung übergeben werden konnte. Das städtische Baupflegeamt hielt das durch die Bombeneinschläge in unmittelbarer Nähe bis in die Fundamente erschütterte Gebäude für zu stark einsturzgefährdet, als daß man Büchermagazine sowie Lesesäle und Ausleihe darin hätte wieder eröffnen können. Die Stadtbücherei mußte in das alte Clemenshospital ausweichen.

Ein weiteres Provisorium als Zwischenspiel: Notkirche der St. Lamberti-Pfarrei

Nicht zu gefährlich erschien es demgegenüber das Erdgeschoß des Krameramtshauses der benachbarten Lamberti-Pfarre, deren Kirche so stark beschädigt war, daß sie nicht benutzt werden durfte, als Notkirche zur Verfügung zu stellen. Nach Genehmigung durch die Stadtverwaltung wurde der alte Gildesaal notdürftig gesichert und durch improvisierte Zurüstungen als Kirchenraum hergerichtet. Er diente diesem Zweck vom März 1946 bis zur Wiedereröffnung der Lamberti-Kirche im Oktober 1949. Parallel dazu wurden seit 1948/49 bereits Konzepte und Pläne für eine grundlegende Sanierung des Gebäudes aus dem einzig übriggebliebenen Zeugen bürgerlicher Profanbaukunst vergangener Jahrhunderte in Münster entwickelt. Sie entstanden im Zusammenhang mit einer neuen städtebaulichen Gesamtlösung für die wichtige Stadtraumsituation Alter Steinweg/Ecke Kirchherrngasse. In sie einbezogen war vor allem das dem Krameramsthaus benachbarte Hausgrundstück Alter Steinweg 6, das völlig in Trümmern lag. Dieses Haus sollte in einer Art und Weise wieder aufgeführt werden, die in Baumaterial, Baustil und vor allem Fassadengestaltung dem Krameramtshaus angepaßt und mit ihm zu einem Gebäudekomplex zusammengefaßt war. Das war ohne Substanzverlust an historischen Befunden für das Krameramtshaus möglich, da die Westseite ja schon immer durch das Nachbarhaus zugebaut war. In den Jahren 1949 bis 1951 wurden Pläne, für die der Stadtbaurat Scharf verantwortlich zeichnete, zusammen mit dem Bibliotheksleiter Dr. Thiekötter realisiert. Die Planungen bezogen sich von Anfang an nicht nur auf die baulich Lösung. Verbunden war damit zugleich ein umfassendes neues Nutzungskonzept des entstehenden Doppelhauses. Dieses Nutzungskonzept ging auf den städtischen Kulturdezernenten Wilhelm Vernekohl zurück und sah vor, den neuen Gebäudekomplex Alter Steinweg 6/7 nicht nur städtebaulich, sondern auch kulturpolitisch stark akzentuiert. Die umfassende neue Zweckbestimmung als ‘städtisches Kulturzentrum’ wurde der Öffentlichkeit vorgestellt, als Pfingsten 1951 ein großer überregionaler Fachkongreß der deutschen Bibliothekare mit über tausend Teilnehmern in Münster stattfand und bei dieser Gelegenheit die Stadtbücherei in ihren neuen Räumlichkeiten festlich wiedereröffnet werden konnte.

Magazin
Magazin des Stadtarchivs im Keller des Krameramtshauses, nach 1953
© Stadtarchiv Münster, Bildarchiv Werbe- und Verkehrsamt

Das Vernekohl-Konzept, das Krameramtshaus “neben den Stätten zur Pflege von Theater und Musik als dritte Säule des kulturellen Lebens unserer Stadt”, zu etablieren, wurde in der Presseberichterstattung wie folgt beschrieben: “In dem erneuerten Zwillingsbau werden in Zukunft die wesentlichsten Aufgaben städtischer Kulturpflege zusammengefaßt sein, und zwar neben der Stadtbücherei das Stadtarchiv, das Kulturdezernat und das Presseamt. Im Kaminsaal sollen nicht nur die Sitzungen des Kulturausschusses, sondern auch die Pressekonferenzen mit der Stadtverwaltung stattfinden. Das neue und erweiterte Krameramtshaus wird ein Kulturzentrum nicht nur der Stadt, sondern auch weitergehender westfälischer, geistiger und heimatpflegerischer Belange darstellen”. Das Letztere bezog sich auf Vortragsveranstaltungen zum Beispiel des Altertumsvereins und anderer Institutionen sowie auf Lesungen und Rezitationen auf Münster und Westfalen bezogener Literaturtexte, die im Gildesaal bzw. Kaminsaal vorgesehen waren.

Als an den Geschicken des Hauses anteilnehmende und besonders engagierte Gruppierung in der Stadt meldete sich auch der Verein der Kaufmannschaft in Gestalt seines Vorsitzenden, des Verlegers Friedrich Leopold Hüffer, zu Wort. Hüffer konnte in seinem Grußwort über die Stiftung eines eigens zu diesem Zweck angefertigten neuen Kronleuchters für den Kaminsaal durch den Verein der Kaufmannschaft informieren; er führt dazu aus: "Wir freuen uns, durch die regelmäßige Benutzung des Kaminsaales mit diesem Hause schon jetzt wieder eng verbunden zu sein. Wir glauben deshalb dieser Verbundenheit anläßlich der Neueröffnung dadurch Ausdruck geben zu sollen, daß wir als erste Morgengabe den in der Trinkstube aufgehängten Kronleuchter stiften. So hoffen wir denn eine beziehungsreiche Bleibe in diesem Hause zu behalten."

Als letzte Baumaßnahme wurde 1953 der abgetragene Nordgiebel wiederhergestellt. Den vorläufigen Abschluß der Realisierung des Vernekohl-Planes bildete im April 1953 die Unterbringung des Stadtarchivs im Kellergewölbe des Krameramtshauses. Die umfangreichen und wertvollen Archivalien, die in Schloß Wöbbel weitgehend unbeeinträchtigt den Krieg überstanden hatten, waren als letzte der ausgelagerten Kulturgüter in sieben großen Lastwagentransporten nach Münster zurückgeführt worden. In einer neugeschaffenen, mehr als 500 lfdm. Ablagefläche bietenden Regalanlage wurden sie nun der Benutzung durch Wissenschaft, Verwaltung und Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht.

Schlußbemerkung

Leider ist das Vernekohl-Konzept über die Anfangsphase der Realisierung kaum hinausgekommen. Schon bald wurde es vor allem durch die sprunghafte Weiterentwicklung der Stadtbücherei überholt. Nach der Fertigstellung der Neubauten des Stadthaus-Komplexes am Syndikatsplatz in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zogen das Kulturdezernat und das Presseamt aus dem Krameramtshaus aus. 1967 bis 1969 wurde der neue Gebäudetrakt für die Bücherei im Anschluß an das Büchereigebäude Alter Steinweg Nr. 6 erreichtet, und 1978 schließlich räumte das Stadtarchiv den Keller des Krameramtshauses sowie die Diensträume in den Obergeschossen und bezog das eigens für Archivzwecke hergerichtete neue Dienstgebäude Hörsterstraße 28, den Kapellenbau des Lotharinger Klosters. Die Stadtbücherei rückte jeweils in die freiwerdenden Räume nach, erreichte dadurch aber dennoch nie eine der stürmisch weiter ansteigenden Benutzerfrequenz entsprechende Raumausstattung.

Quelle: Jokobi, Franz-Josef: Das Krameramtshaus im 19. und 20. Jahrhundert: Wechselnde Nutzungen und Provisorien, in: Jakobi, Franz-Josef (Hrsg.): Das Krameramtshaus zu Münster 1589 bis 1989. Zeugnis für 400 Jahre Stadtgeschichte, Münster: Regensberg  1989, S. 137-190.