Forschung


 

Die Abteilung für Neuere und Neueste Geschichte (19. bis 21. Jahrhundert) unter der Leitung von Prof. Dr. Silke Mende deckt in Forschung und Lehre den Zeitraum vom 19. bis zum 21. Jahrhundert ab. Schwerpunkte liegen dabei auf der Geschichte Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Westeuropas. Ein besonderes Interesse gilt der Verflechtungsgeschichte und der New Imperial History sowie der Geschichte von Demokratie und Parlamentarismus in Europa.

 

 

  • Die Küsten sichern, die Welt beherrschen. Zur Geschichte eines transimperialen Projekts ca. 1870-1930

    Ein Projekt von Kevin Lenk, M.A.

    Mein Projekt fragt an der dreifachen Schnittstelle zwischen Sicherheitsgeschichte, transimperialer Geschichte und Maritime History, wie europäische Kolonialimperien zwischen 1870 und 1930 Küstenräume sicherten und somit erstens koloniale Herrschaftsverhältnisse in diesen strukturierten, zweitens wie diese Herrschaftsverhältnisse Küstenräume als solche formten und ausrichteten sowie drittens, wie die hierbei ausgebildeten Praktiken, Routinen und Wissensformen der Sicherung litoraler Räume längerfristig Eingang in internationales Recht und internationale Sicherheitsregime fanden.

    Das Projekt betrachtet Küstenräume, die weder rein geografisch determiniert noch rein diskursiv konstruiert sind, als eigenlogische Übergangszonen zwischen aquatischen und terrestrischen Räumen, die im Untersuchungszeitraum die zentralen Interfaces globaler Flows an Waren, Personen, Krankheitserregern und Wissen darstellten. In diesen Räumen flossen zudem unterschiedliche Rechtsordnungen, Lebensweisen, imperiale Interessen und Konkurrenzen sowie Vorstellungen und Möglichkeiten von Territorialität und Souveränität ineinander und stellten europäische Kolonialimperien somit vor besondere Herausforderungen des „Sicherns“ und „Ordnens“.

    Konkret untersucht das Projekt in einem ersten Schritt drei Versuche europäischer Kolonialimperien, Küstenräume zu „sichern“. Zum einen untersucht es die europäischen Versuche der Cholerabekämpfung und des Umgangs mit verarmten Pilgern sowie Kriminalität im Roten Meer, der Suezkanalzone und an der Küste des Hedschas zwischen 1866 und 1914. Zum anderen untersucht es das Vorgehen des Internationalen Maritimen Büros auf Sansibar und der daran beteiligten Kolonialimperien gegen Alkohol- und Waffenschmuggel sowie Sklavenhandel an der ostafrikanischen Küste zwischen 1890 und 1911. Schließlich analysiert es das Vorgehen europäischer Mächte gegen die Entführung von Dampfpassagierschiffen in den Küstenräumen und Flussdeltas um Hong Kong zwischen 1905 und 1935.

    In einem zweiten Schritt betrachtet es dann die Übersetzung der in den Case Studies erprobten oder rekonfigurierten Praktiken und Wissensbestände der Küstensicherung in Recht und abrufbares geteiltes Wissen durch internationale und transimperiale Institutionen wie internationale Konferenzen, das Institut Colonial International und den Völkerbund.

  • Geburtshilfe, Frauenbilder und (post-)koloniale agency im 20. Jahrhundert

    Ein Projekt von Dr. Sarah Lias Ceide

    Das Projekt möchte die wissenshistorischen, geschlechtergeschichtlichen sowie (post-)imperialen Dimensionen der Geburtshilfe des 20. Jahrhunderts neu denken und in ihren globalen Bezügen ausleuchten. Indem es sich zwischen Europa und dem (post-)kolonialen Subsahara-Afrika bewegt, verfolgt das Vorhaben einen transkontinentalen, teils verflechtungsgeschichtlichen Ansatz und fragt nach Entstehung und Entwicklung obstetrischer Diskurse und Praktiken zwischen Kolonialismus und Dekolonisierung sowie nach ihren langzeitperspektivischen und geschlechterspezifischen Verflechtungen und Divergenzen.

  • Laizität als (post-)koloniale Herausforderung? Religion und Republikanismus in Marseille, 1946 bis 1989

    Ein Projekt von Prof. Dr. Silke Mende am Exzellenzcluster "Religion und Politik"

    Das Projekt untersucht den Zusammenhang von Religion und Republikanismus im (post-)kolonialen Frankreich. Im Mittelpunkt stehen die Debatten und Aushandlungsprozesse um das Schlüsselkonzept der „Laizität". Den Kern bildet eine Fallstudie zu Marseille im Zeitraum von 1946 bis 1989. Dadurch soll der Blick auf die Geschichte der Laizität in Frankreich in zweifacher Weise dezentriert werden: Erstens, in räumlicher Hinsicht, indem mit Marseille eine vermeintlich periphere Stadt ins Zentrum gerückt wird, die nicht nur für eine außergewöhnliche religiöse Vielfalt steht, sondern auch am Schnittpunkt unterschiedlicher Transfer- und Verflechtungsprozesse angesiedelt ist und nicht zuletzt einen zentralen Dreh- und Angelpunkt zwischen Frankreich und seinem (ehemaligen) Kolonialreich bildet. Zweitens, in zeitlicher Perspektive, indem nicht abermals die beiden Hochzeiten französischer Laizitätsdebatten an den Wenden zum 20. bzw. 21. Jahrhundert im Mittelpunkt stehen, sondern die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die „alten" Konflikte zwischen Katholizismus und Staat scheinbar stillgestellt und die „neuen" zwischen Republikanismus und Islam noch nicht prominent auf die Tagesordnung gerückt worden waren. Zugleich fallen in diesen Zeitraum zwei weitere Entwicklungen, die für das Verhältnis von Religion und Politik maßgeblich sind: Erstens, die von den Sozialwissenschaften häufig als „Säkularisierung" gefassten Transformationsprozesse der Nachkriegsjahrzehnte und, zweitens, die mit unterschiedlichen Migrationsbewegungen einhergehende Dekolonisierung. Beides veränderte nicht nur die religiöse Landschaft in Frankreich, sondern brachte auch eine große Bandbreite unterschiedlicher Überzeugungen und Erfahrungen zum Verhältnis von Religion und Politik miteinander ins Spiel. Wie wirkte sich dies auf Ideen und Praxis von Laizität aus? Und inwiefern können die Jahrzehnte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den späten 1980er Jahren als Formierungsphase für die aktuellen Auseinandersetzungen um Religion, Republikanismus und Laizität in Frankeich gelten? Eine Untersuchung dieser bisher vernachlässigten Epoche in der Geschichte der Laizität erlaubt es, so die These, heutige Debatten und Konflikte historisch zu kontextualisieren und differenzierter einzuordnen.

  • Abgeschlossene Projekte

    1. Ordnung durch Sprache. Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860–1960
      Ein Projekt von Prof. Dr. Silke Mende

      Mit dem Begriff „Francophonie“ wird meist die Sprachpolitik Frankreichs ab den 1960er Jahren assoziiert. Ihre eigentliche Prägekraft als politisches Projekt entfaltete sie jedoch vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Dekolonisierung. Sprache und Sprachpolitik waren zum einen ein sensibler Seismograph französischen Selbstverständnisses. Zum anderen wurden sie zu einem politisch-kulturellen Ordnungsinstrument, das auf die Etablierung und Verbreitung von Normen und Vorstellungen sowie die Herstellung gesellschaftlicher Integration und politischer Kohäsion zielte. Von Beginn an war es in gleichem Maße nach innen wie nach außen gerichtet.
      Das Buch untersucht die Genese und Weiterentwicklung der Francophonie, nimmt ihre zentralen Akteure, Ideen und Praktiken in den Blick und untersucht ihre konkrete Ausgestaltung. Im Zentrum steht das komplexe Wechselspiel zwischen dem französischem Nationalstaat, seinem Imperium und der internationalen Politik. Damit werden diese häufig getrennt voneinander behandelten Dimensionen französischer Geschichte konsequent aufeinander bezogen. Zugleich wird der anglophone Schwerpunkt der Imperial- und Globalgeschichte um einen zentralen Aspekt des „French Imperial Nation-State“ ergänzt.


      Ordnung durch Sprache
      Francophonie zwischen Nationalstaat, Imperium und internationaler Politik, 1860–1960

      Reihe: Studien zur Internationalen Geschichte, 47
      De Gruyter Oldenbourg | 2020
      DOI: https://doi.org/10.1515/9783110656305


    2. „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen
      Ein Projekt von Prof. Dr. Silke Mende

      Vier Jahrzehnte nach der Gründung ist die Partei "Die Grünen" ein etablierter Faktor in der bundesdeutschen Politik. Doch aus welchen ideengeschichtlichen Traditionen stammten ihre Konzepte, wo ist ihr historischer Ort in der Geschichte der Bundesrepublik? Das Buch entfaltet das ganze Spektrum der grünen Strömungen, von konservativen Naturschützern über verschiedene Anhänger eines "Dritten Weges" bis hin zu dogmatischen und undogmatischen Gruppen der Neuen Linken nach "1968". Die Formierung der Gründungsgrünen wird mit den politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen in Beziehung gesetzt, welche die Bundesrepublik der 1970er und frühen 1980er Jahre kennzeichneten.

      Ausgezeichnet mit dem Dr. Leopold-Lucas-Nachwuchswissenschaftler-Preis 2011 der Universität Tübingen.


      „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“
      Eine Geschichte der Gründungsgrünen

      Reihe: Ordnungssysteme, 33
      De Gruyter Oldenbourg | 2011


    3. Tod und Gemeinschaft. Die politische Instrumentalisierung von Toten im Kontext des deutschen Linksterrorismus
      Ein Projekt von Kevin Lenk

      Die Geschichte des bundesdeutschen Linksterrorismus ist nur zu verstehen, wenn man einbezieht, wie seine Toten selbst ein Mittel des Kampfes zwischen den linksterroristischen Formationen und dem Staat wurden. Das Projekt hat untersucht, wie staatliche bzw. staatsnahe Akteur:innen, die linksterroristischen Gruppen, die nicht-klandestine Linke, Parteien und zivilgesellschaftliche Akteur:innen sowie die Medien die Toten der Auseinandersetzung zwischen dem bundesrepublikanischen Staat und den linksterroristischen Formationen Westdeutschlands politisch deuteten und inszenierten. Es fragte dabei, welche Wirkungen dies auf den Konflikt selbst und auf die politische Kultur der Bundesrepublik hatte.
      Die Auseinandersetzung zwischen dem Staat und den Linksterrorist:innen der 1970er Jahre hat in unterschiedlichen Segmenten der westdeutschen Gesellschaft dann pazifizierend, pluralisierend und demokratisierend gewirkt, wenn Akteur:innen mit der politischen Instrumentalisierung von Toten erfolglos waren. Es war das Scheitern der radikalen Linken, die Toten zu geteilten Szenemärtyrer:innen zu erheben, das Krisenwahrnehmungen im Milieu verschärfte und eine Abkehr von tödlichen Gewaltkonzepten antrieb. Im politischen wie medialen Betrieb der Bundesrepublik konsolidierte die Darstellung und Instrumentalisierung der Toten eine konservative Verschiebung von Staatsvorstellungen, insbesondere in der Exekutive, und mobilisierte die christdemokratischen Milieus. Die Judikative und die (links-)liberalen Segmente der Zivilgesellschaft blieben aber von den im konservativen Boulevard geprägten und sich allmählich in den politischen Betrieb hinein ausbreitenden Darstellungsroutinen und Instrumentalisierungspraktiken unbeeindruckt. Sie bildeten Gegenkräfte zu dieser Verschiebung. Dennoch war dies keine Erfolgsgeschichte, in der lediglich autoritäre Versuchungen in Zeiten politischer Gewalt abgewehrt wurden: Die Unfähigkeit des linksliberalen Milieus, eigene Routinen der Deutung und Darstellung der Opfer von RAF und B2J auszubilden, bewirkte, dass durch die ursprünglich in der konservativen Publizistik und in der Exekutive ausgeprägten Darstellungs- und Inszenierungsroutinen in der Bundesrepublik eine verzerrte Wahrnehmung politischer Morde entstanden ist.