Allgemeine Angaben

Diskussionsthema
Die Sprache als Schlüssel zur Integration?
Zur gesellschaftlichen Relevanz der Mehrsprachigkeitsforschung

Diskutanten
Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts
Leitende Ministerialrätin Susanne Blasberg-Bense, Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW
PD Dr. Natalia Gagarina, Sprachwissenschaftlerin am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft Berlin
Prof. Dr. Clemens Leonhard, Ehrenamtlicher Koordinator der Deutschkurse der Flüchtlingshilfe Münster Südviertel


Moderation
Dr. Andreas Bittner

Veranstaltungsort
Do, 09.03.2017, 9:00 - 10:00 Uhr
Aula, Germanistisches Institut, Westfälische Wilhelms-Universität



Impulsvortrag zur Eröffnung der Podiumsdiskussion


Spracherwerb von Einwanderern: Dichtung und Fakten.
Oder: Die Sprache ist der Schlüssel zur Integrationstür – aber wo ist das Schloss?

PD Dr. Natalia Gagarina (Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft, Berlin)

Wir beginnen mit einigen Zahlen: In Berlin durchlaufen alle Kinder im Vorschulalter – die Zahl liegt bei rund 30.000 – eine obligatorische Einschulungsuntersuchung im Alter von fünf Jahren. Diese Untersuchung prüft u.a. Sprachkompetenzen im Deutschen, orientiert an der monolingualen Norm und besteht aus einer Kombination: Screening des Entwicklungsstandes bei Einschulungsuntersuchungen (S-ENS, Döpfner et al., 2005) und Sozialpädiatrisches Screening für Schuleingangsuntersuchungen (SOPESS, Petermann et al., 2009). Die aktuellste Grundauswertung dieser Daten mit den Zahlen von 2014 macht u.a. Angaben zu einem kombinierten Sprachindikator von Sprachdefiziten in Abhängigkeit von Migrationsmerkmalen und sozialer Lage. Über 50% der Kinder türkischer, arabischer oder osteuropäischer Herkunft zeigen Sprachdefizite. Berücksichtigt man nur die soziale Lage, haben über die Hälfte der Kinder aus der unteren Statusgruppe auch Sprachdefizite. Dennoch - wie klassifiziert man diese Defizite? Aus der Forschung wissen wir, dass nur bei ca. 7 % der Kinder eine spezifische Sprachentwicklungsstörung vorkommt und dass bei der überwiegenden Zahl dieser (mehrsprachigen) Kinder folglich nicht-pathologische Sprachentwicklungsrückstände bzw. umgebungsbedingte Sprachauffälligkeiten vorliegen müssen. Die Kinderärzte berichten aber: „Viele dieser Kinder finden sich ... als Patienten in der Kinderarztpraxis wieder und  das Problem muss kostenträchtig über das Medizinsystem aufgefangen werden. Hier findet sich ein Paradebeispiel für die Medikalisierung sozialer Schwierigkeiten unserer Gesellschaft “ (Fegeler, 2004: 22). Das war der Stand von 2004. Fast zehn Jahre später zeigt der medizinische Bericht der Barmer GEK Versicherungsgesellschaft, dass im Jahr 2012 bei jedem dritten Kind im Vorschulalter eine spezifische Sprachentwicklungsstörung diagnostiziert wurde (für Definition von spezifischen Sprachentwicklungsstörungen s. de Langen-Müller et al., 2011). Diese ‚Krankheit’ hat jedoch eine Prävalenzrate von ca. 7 % (Tomblin et al., 1996), es kann nicht sein, dass über 30% der Kinder eine spezifische Sprachentwicklungsstörung haben.
Einer der Gründe für diese Situation ist, dass die Sprachkenntnisse der mehrsprachigen Kinder und Jugendlichen im Allgemeinen noch immer unzureichend untersucht sind (s. Marchman et al., 2009) und die zweisprachigen Normierungen oft fehlen. Doch vor kurzem wurden die allerersten Werkzeuge für die Diagnostik von Sprachkompetenzen beider Sprachen entwickelt (Armon-Lotem et al., 2015). So gesehen sind wir auf einem guten Weg, die Schlüssel zu schleifen, um die Sprachkenntnisse der Menschen mit einer bilingualen Aufwachsenshistorie feststellen und fördern zu können.
Nun stehen wir da mit dem Schlüssel in der Hand und suchen das passende Schloss. Sprachförderprogramme gibt es zu Hauf, aber wir erreichen nur – wenn überhaupt – einen kleinen Teil der Kinder, die nicht in einem ausreichenden Maße die deutsche Sprache beherrschen, um erfolgreich einen Schulbeginn zu starten. Der Versuch, diesen Missstand mit Hilfe der Medizin (Logopädie) zu beheben, muss als gescheitert angesehen werden. Wo also finden wir das Schloss? Es könnte sich in den pädagogischen Programmen verbergen, die in den Kitas die Kinder vorbereiten mit einer Sprachförderung, die auch langfristig wirksam ist. Das zweite Schloss ist – möglicherweise – das Einbeziehen der Eltern in die Sprachförderung: Vorlesen, Singen, Sprechen sind hier die „Schlüsselwörter“. Das dritte ist die Anerkennung und das Leben der sogenannten, ‚westlichen Werte‘ und deren Pflege in der Familie und das Weitergeben an die Seele und den Geist der Kinder. Es gibt bestimmt noch einige andere Schlösser, die entdeckt werden sollten. Nur so kann die Sprache, also der Schlüssel, die Integrationstür für die Einwanderer öffnen.

Referenzen

  • Armon-Lotem, S., de Jong, J. & Meir, N. (Hrsg.) (2015). Assessing Multilingual Children. Bristol: Multilingual Matters.
  • de Langen-Müller, U., Kauschke, Ch., Kiesel-Himmel, Ch., Neumann, K., & Noterdaeme, M. (2011). Interdisziplinäre S2k-Leitlinie.
  • Döpfner, M., Dietmair, I., Mersmann, H., Simon, K., & Trost-Brinkhues, G. (2005). S-ENS Screening des Entwicklungsstandes bei Einschulungsuntersuchungen. Hogrefe.
  • Fegeler, U.  (2004). Alarmierender Anstieg von Entwicklungsstörungen bei Kindern. Übereinstimmendes Bild in verschiedenen Bundesländern. Berliner Ärzte, 41, 9, 22 - 24,.
  • Marchman, V.A., Fernald, A. & Hurtado, N. (2009). How vocabulary size in two languages relates to efficiency in spoken word recognition by young Spanish–English bilinguals. Journal of Child Language, 37, 4, 817–840.
  • Petermann, F., Daseking, M., Oldenhage, M & Simon, K. (2009). Sozialpädiatrisches Screening für Schuleingangsuntersuchungen. Düsseldorf: LIGA.NRW.
  • Tomblin, J., Smith, W. & Zhanf, X. (1997). Epidemiology of specific language impairment: prenatal and perinatal risk factors. Journal of Communication Disorders, 30, 325-342.