Mind-Bender: Forschung, Positionen, Begriffe

Eike Bußmann, Maike Engel, Leonie Schnüttgen, Sina Weiß

 

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Der erstmals von Steven Johnson verwendete Begriff ‚Mind-Bender‘ bezeichnet Filme, die eine komplexe narrative Struktur besitzen und ZuschauerInnen dadurch vor eine kognitive Herausforderung stellen. Johnsons Begriff aufnehmend definiert Jan-Noël Thon vier Merkmale, welche typisch für von klassischen1 Erzählmustern abweichende Filme seien, jedoch nicht notwendigerweise erfüllt sein müssen: 1. Die Darstellung komplexer Geschichten (bestehend aus multiplen Handlungssträngen und handelnden Figuren), 2. die Abweichung von der Chronologie der Geschichte durch Analepsen und Prolepsen, 3. unterschiedliche Formen des unzuverlässigen Erzählens, sowie 4. das selbstreflexive Spiel mit narrativen bzw. fiktionalen Ebenen, beispielsweise in Form von Metalepsen.

Für ähnliche narrative Phänomene, welche vermehrt in Filmen seit den 1990er Jahren zu beobachten sind, findet sich in der Forschungsliteratur eine Viel-zahl alternativer Begriffe. Britta Hartmann etwa nutzt die Bezeichnung ‚Twist Mo-vies‘für Filme, die als konstitutives Merkmal eine „rückwirkende Überraschungsge-schichte“ (Hartmann 2007: 48) aufweisen. Da hier in der Regel nicht der Plot Ziel des Umbruchs sei, sondern der Realitätsstatus, welcher den Ereignissen von den Zu-schauerInnen zugeschrieben wird, sei plot twist moviekein adäquater Begriff. Statt-dessen sei epistemological twist filmpassender, wie George Wilson es für Filme mit twists vorschlägt, die den epistemologischen Status der Geschichte (oder auch Einstellungen und Sequenzen) betreffen.

‚Falsche Fährten‘2 führen RezipientInnen zu Hypothesen, die sich als falsch herausstellen: Als falsche Fährte gilt „zunächst einmal jedes Element einer Vermitt-lung [...], welches beim Rezipienten eine Täuschung verursacht“ (Leiendecker 2015: 46). Anton Fuxjäger klassifiziert falsche Fährten als 1. intendiert oder nicht inten-diert, 2. intratextuell, intertextuell, extratextuell, 3. auf die Diegese bezogen oder nicht, 4. auf falsche Vermutungen oder falsche Überzeugungen und 5. auf die diege-tische Vergangenheit/Gegenwart oder auf die Zukunft bezogen. Dabei wird betont, dass falsche Fährten ein „Zusammenspiel von Rezipient und Vermittlung“ (Fuxjäger 2007: 20) sind. RezipientInnen täuschen sich selbst aufgrund ihrer Mechanismen der Informationsverarbeitung, z.B. durch eine voreilige Präsumtion über die erzählte Welt. Aufseiten der Vermittlung kommt es zur Vorenthaltung expositorischer Informationen.

Spielfilme, die dem postmodernen „Mikrogenre“ (Geimer 2016) des ‚Mind-fuck‘ – ein von Jonathan Eig eingeführter Begriff – zugeordnet werden, weisen eine besondere narrative Struktur auf. Exposition und Konflikt dienen der Ablenkung vom „eigentliche[n] Problem“ (Geimer 2016). Statt einer Problemlösung findet am Ende des zweiten Akts oder in der Klimax ein Plot-Twist statt (Plot-Twist, Final Twist): die Enthüllung der ‚wirklichen‘ Geschichte über die Dekonstruktion des Gezeigten, meist als eine narrative Überraschung die Identität des Protagonisten betreffend. Die Auflösung (am Ende) muss nicht notwendig eindeutig sein. Den RezipientInnen wer-den folglich Informationen über das ‚wirkliche‘ Geschehen und die Identität des Hel-den vorenthalten, die der Held selbst nicht kennt (Unzuverlässigkeitim Film). Das Erzählte wird non-linear präsentiert.Darüber hinaus ist diese Narrationsstruktur deshalb ‚dysfunktional‘ angelegt, da der Film die verzerrte, subjektive Perspektive des Helden und nicht das tatsächliche Geschehen abbildet.

Warren Buckland hingegen fasst unter dem Begriff ‚puzzle plots/films‘ alle Filme, die über eine nach Aristoteles einfache oder komplexe Erzählweise hinausge-hen und ZuschauerInnen vor nicht nur geradlinig aufeinander folgende (= einfache) oder miteinander verwobene (= komplexe) Ereignisse stellen. Vielmehr werden Rezi-pientInnen mit verworrenen Geschehnissen (hervorgerufen z.B. durch Non-Linearität, Ambiguitäten o.ä.) konfrontiert, die nicht immer auf eine logische Chronologie oder Kausalität hin aufgelöst werden (können). Neben der nicht klassischen, verwir-renden Erzählweise benötigt der puzzle filmlaut Buckland Charaktere, die klassische Muster brechen. Dies geschieht etwa, wenn Figuren in der filmischen Realität z.B. ohne ihr eigenes Wissen schizophren, gedächtnislos oder tot sind. Die RezipientIn-nen teilen dieses Unwissen zumindest bis zu einem Plot Twist (Plot-Twist, Final Twist), weil ihnen auf Discoursebene Informationen vorenthalten werden. Erst hier-durch werden laut Buckland nicht klassische Handlungen und Geschehnisse ermöglicht. Puzzle filmssind nicht nur auf der narrativen Ebene komplex, sondern auch auf der Narrationsebene.

Elliot Panek schließt sich mit seinem erweiternden Begriff ‚psychological puzzle films‘ Buckland an und hebt hervor, dass durch diese Art von Film und die nicht klare Erzählweise und Erzählung bei den ZuschauerInnen Prozesse des „sense-makings“ (Panek 2006: 66) und Zweifel über die Beziehungen zwischen Geschehnissen, Figuren, der Narration und ZuschauerInnen und der eigenen Realität hervorgerufen werden.

Miklós Kiss greift Bucklands Begriff ‚puzzle films‘ auf, unterscheidet Komplexitätsgrade und stellt ihm den Begriff ‚riddle plots‘ an die Seite. Kiss unterscheidet zwischen einfachen, komplexen, Puzzle- und Riddle-Filmen. Riddle plotsweisen ihm zufolge eine höhere Komplexität als puzzle films auf, weil riddle plots Rätsel nicht auflösen. Puzzle plotsdagegen lösen die Rätsel/Puzzle zumindest zu einem großen Teil auf. Puzzle filmsmüssen nur eines der von Buckland genannten Merkmale aufweisen, riddle plotshingegen agieren gleichzeitig mit zumindest mehreren dieser Merkmale, sodass die Rekonstruktion einer für ZuschauerInnen zu erkennenden und nachzu-vollziehenden Erzählung unmöglich wird (Narrative ‚Verrätselung‘).

Der Begriff ‚Mindgame-Movie‘ wurde primär geprägt von Thomas Elsaesser. Täuschung und Irreführung sowie die erhöhte Anforderung an die Aufmerksamkeit von BetrachterInnen sind entscheidende Merkmale von mindgame-movies. Filme die-ser Art haben eine komplexe, meist nicht linear verlaufende Erzählstruktur. Neben dem Spiel mit dem Wissen der RezipientInnen, welches durch mehrdeutige oder auch vorenthaltende Informationen manipuliert wird, kann in mindgame-Filmen auch ein Spiel mit dem_der Protagonisten_In gespielt werden. In dem Fall handelt es sich um Spiele im eigentlichen Sinn, die oftmals tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Hauptfigur haben und sogar tödlich sein können wie bei THE GAME (USA 1997) oder THE TRUMAN SHOW (USA 1998). Auch Filme, in denen der_die ProtagonistIn scheinbar oder tatsächlich unter einer psychischen Erkrankung leidet − Elsaesser erwähnt insbesondere Paranoia, Amnesie und Schizophrenie −, fallen unter den Begriff mindgame-movie. Dabei wird die Weltsicht der Hauptfigur jedoch lange Zeit als real gesetzt und nicht als gestört markiert.

Als Oberkategorie eignen sich die Konzepte des puzzle films und z.T. die des Mind-Benders, da beide sowohl auf Histoire- als auch auf Discoursebene ansetzen, die Komplexität von Erzählung und Erzählweise gleichermaßen als mögliche Konstituenten betrachten. Allerdings werden beimKonzept des Mind-Benderszusätzlich rezeptionsästhetische Aspekte fokussiert, die im Rahmen einer struktural-semioti-schen Betrachtungsweise zu vernachlässigen sind. Die von Elsaesser als mind-gamebezeichnete Kategorie scheint in diesem Kontext ungeeignet, da sie eine komplexe Erzählweise nicht zwangsläufig fordert, was allerdings die Grundbedingung dieser Kategoriendefinition ist, da sie als grundlegende Gemeinsamkeit aller anderen Erfassungsversuche auffällt.Die Kategorien riddle plotund Mindfucksind in unserem Fall zu eng gefasst: Die riddle plots stellen durch ihre Verweigerung einer Auflösung eine Spezialform oder auch Unterkategorie der puzzle filmsdar; das Merkmal der Mindfuck-Filme, dasses eine Überraschung bezüglich der Identität des_der Protagonis-ten_In gibt, wäre eine simplifizierende Einschränkung.

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1 ‚Klassisch‘ nach Aristoteles bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Geschehnisse (sowie Cha-raktere und Handlungen) mimetisch und miteinander verbunden, also keinesfalls episodenhaft, sind. Laut Aristoteles ist jegliche Dichtung mimesis (Nachahmung), wobei es sich hierbei nur um eine die Realität repräsentierende, nicht aber um eine der Realität im Detail entsprechendeDar-stellung handelnder Menschen handelt (vgl. Aristoteles, ποιητική[τέχνη], Kapitel 1−5).

2 ‚Fährten‘ werden von Hans Jürgen Wulff als Hinweise, roter Faden oder auch Hilfsmittel definiert, die „einen Sinnzusammenhang zwischen unzusammenhängend Scheinendem“ (Wulff 2005: 147) herstellen.


Filme

THE GAME (USA 1997, David Fincher).

THE TRUMAN SHOW(USA 1998, Peter Weir).

Forschungsliteratur

Aristoteles: Poetik. Griechisch/deutsch. Übers. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2012(= Bibliogr. erg. Ausg. 1994, [Nachdr.]).

Buckland, Warren: „Introduction: Puzzle Plots“. In: Ders. (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden, Mass. 2009, S. 1−12.

Eig, Jonathan: „A Beautiful Mind(fuck). Hollywood Structures of Identity“. In: Jump Cut. Review of Contemporary Media46 (2003). http://www.ejumpcut.org/ar-chive/jc46.2003/eig.mindfilms/index.html(Stand 12.03.2016).

Elsaesser, Thomas: „The Mind-Game Film“. In: Warren Buckland (Hg.): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema. Malden, Mass.2009, S. 13−41.

Fuxjäger, Anton (2007): „Falsche Fährten in Film und Fernsehen“. In: Patric Blaseru.a. (Hg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Wien u.a. 2007, S. 13–32.

Geimer, Alexander: „Der Mindfuck als postmodernes Spielfilm-Genre. Ästhetisches Irritationspotenzial und dessen subjektive Aneignung untersucht anhand des Films ‚The Others‘“. In: Jump Cut. Kritiken und Analysen zum Film(2016). http://www.jump-cut.de/mindfuck1.html(13.11.2016).

Glinka, Moritz: „Mindgame-Movies“. In: Lexikon der Filmbegriffe (2014). http://film-lexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=8240(13.11.2016).

Hartmann, Britta: „Von der Macht erster Eindrücke. Falsche Fährten als textparadig-matisches Krisenexperiment“. In: Patric Blaser u.a. (Hgg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen. Wien 2007, S. 33–52.

Johnson, Steven: Everything Bad is Good for You. London 2006,S. 129–130.

Kiss, Miklós: „Navigation in Complex Films. Real-life Embodied Experiences Under-lying Narrative Categorisation“. In: Julia Eckel u.a. (Hgg.): (Dis)Orienting Me-dia and Narrative Mazes. Bielefeld 2013, S. 237–255.

Leiendecker, Bernd: They only see what they want to see. Geschichte des unzuverlässigen Erzählens im Spielfilm. Marburg 2015.

Panek, Elliot: „The Poet and the Detective: Defining the Psychological Puzzle Film“. In: Film criticism31/1–2 (2006), S. 62–88.

Thon, Jan-Noël: „Mind-Bender. Zur Popularisierung komplexer narrativer Strukturen im amerikanischen Kino der 1990er Jahre“. In: Sophia Komor/Rebekka Rohleder(Hgg.): Post-Coca-Colanization: Zurück zur Vielfalt? Frankfurt a.M. 2009, S. 175–192.

Wilson, George: „Transparency and twist in narrative fiction film“. In: Journal of Aesthetics and ArtCriticism64 (2006), S. 81–95.

Wulff, Hans J.: „‚Hast du mich vergessen?‘ Falsche Fährten als Spiel mit dem Zu-schauer“. In: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf(Hgg.):Was stimmt denn jetzt? Un-zuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005, S. 147–153.