Worum geht es in der Ringvorlesung?
Als im Oktober 1923 der erste deutsche Unterhaltungsrundfunk aus dem Vox-Haus in Berlin auf Sendung ging, ahnte noch niemand, wie erfolgreich dieses neue Medium Radio werden würde. Die Politik und auch die Kirchen waren lange skeptisch und sahen keine Zukunft im Rundfunk. Die Sender jedoch bemühten sich von Anfang an um ein abwechslungsreiches, kulturelles und bildendes Programm und luden immer wieder auch Geistliche und Theologen ein, im Radio zu sprechen. Ab 1924 hatten die meisten deutschen Sender einen festen Sendeplatz für religiöse Ansprachen und Verkündigungssendungen in ihrem Programm. Da es noch kein festes Format für diese religiösen Beiträge gab und die meisten Referenten Pfarrer und Pastöre waren, glichen die Sendungen lange Zeit den sonntäglichen Gemeindepredigten.
In einer Ringvorlesung mit wöchentlich wechselnden Referent:innen aus verschiedenen Disziplinen wollen wir einerseits einen Blick auf die 100jährige Geschichte und Entwicklung der Radiopredigt im deutschen Rundfunk werfen und folgenden Fragen nachgehen:
- Welche Inhalte, welche Form und welche sprachliche Gestaltung hatte die Radiopredigt in den 100 Jahren?
- Was war seit 1933 unter dem Regime der Nationalsozialisten noch möglich?
- Wie hat sich die Radiopredigt in Nachkriegsdeutschland entwickelt, als die Kirchen in der BRD bei der Entnazifizierung und Demokratisierung der deutschen Bevölkerung mitwirken sollten?
- Welche Entwicklung nahmen Radiopredigten in der DDR, in einem Staat, in dem die Kirchen als „potenzieller Feind, der von der SED überwacht [wurde,]“ (Bartlitz 2005: 222) galten?
- Wie sehen Verkündigungssendungen heute in Zeiten von Kirchenaustritten und Missbrauchsskandalen aus?
Andererseits soll die Geschichte der Radiopredigt mit einem Blick auf ihren Ursprung und sprachlichen Vorläufer, die Gemeindepredigt, verknüpft werden. So soll die Vorlesungsreihe mit Fragen nach folgenden Aspekten begonnen werden:
- Wie hat sich die Predigt historisch entwickelt? In welcher kommunikativen Situation, mit welchen Inhalten und mit welcher sprachlichen Gestaltung und Intention sind Predigten gehalten worden?
- Wie sah die Predigt im Mittelalter aus, als ihr auch die Rolle eines Massenkommunikationsmediums zukam und sie neben Glaubens- und Religionsinhalten auch andere Informationen weitergegeben hat?
- Welche Entwicklung nahm die Predigt in der Frühen Neuzeit unter Einfluss von Reformation und Gegenreformation? Gab es konfessionsspezifische Charakteristika?
- Welche Rolle spielte und spielt die Predigt in politischer und ethischer Hinsicht?
- Wie sieht religiöser Sprachgebrauch heute aus? Und wie kann man ihn mit (korpus-)linguistischen Methoden untersuchen?
Da ein Jubiläum nicht nur Anlass ist, Geschichte und Gegenwart des zu feiernden Objekts genauer zu beleuchten, soll zum Abschluss der Vorlesungsreihe auch die Zukunft der Radiopredigt in den Blick genommen werden:
- Wie soll sie auf die sich stetig verändernde Gesellschaft und den Stellenwert der Religion im Leben der Menschen reagieren? Müssen Inhalte und Sprache angepasst werden? Können KI-generierte Radiopredigten und Predigt-Roboter hier die Zukunft sein?
Ziel ist es, in dieser interdisziplinären Ringvorlesung Wissen über die historische und konfessionell unterschiedliche Entwicklung der Predigt aus verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen und sodann vor diesem Hintergrund die 100jährige Geschichte der Radiopredigt zu beleuchten. Dabei werden auch die im DFG-Projekt „Sprache und Konfession im Radio“ erzielten Ergebnisse zum konfessionellen Sprachgebrauch in heutigen Radiopredigten vorgestellt, das methodische korpuslinguistische Vorgehen erläutert sowie in den Aufbau und die Nachnutzung des digitalen Korpus der Radiopredigten eingeführt.
Wir laden Sie herzlich ein, an dieser interdisziplinären Ringvorlesung teilzunehmen!
Ihre
Anna-Maria Balbach & Forschungsteam