Multikulturelle Gesellschaft und christliche
Leitkultur. Analysen und Perspektiven / Multiculturalism and
Christianity. Inspection and Outlook (WS 2006/2007)
ergänzende Informationen und Materialien
- Veranstaltungsnummer:
- 021550
- Zeit:
- Mi 16-18 Uhr
- Ort:
- Hü 2.69
- Beginn:
- 25.10.2006
- Ende:
- 07.02.2007
Wenn in Deutschland von ‚Integration‘ die Rede ist, ist damit meist
gemeint, dass sich Angehörige ‚anderer‘ Kulturkreise an die
‚abendländische‘ Mehrheitskultur assimilieren sollen. Gleichzeitig wird
‚Toleranz‘ gegenüber ‚fremden Kulturen‘ angemahnt. All das setzt die
Vorstellung einer klaren Ordnung voraus: Hier ist die Mehrheitskultur
und sie dominiert die Gesellschaft; hinzu kommen die
Minderheitskulturen, die toleriert werden müssen oder eben nicht.
Problematisch an dieser Sichtweise ist vor allem zweierlei. Erstens:
Wir, die Angehörigen der Mehrheitskultur, leugneten lange Zeit unsere
kulturellen Wurzeln eher als dass wir sie pflegten – religiöse
Indifferenz gehörte zum Selbstverständnis des aufgeklärten
Mitteleuropäers und der aufgeklärten Mitteleuropäerin; religöser
Glaube, Orientierung an traditionellen Werten oder gar religiöse Praxis
in Gemeinschaft hatten als Ursprung der Finsternis zu gelten, wenn man
ernstgenommen werden wollte. Nun wird das Phänomen einer ‚Wiederkehr
der Religion‘ beobachtet. Zweitens: Zumindest in den westeuropäischen
Metropolen und Ballungsgebieten gerät die Dominanz der
‚Mehrheitskultur‘ längst ins wanken, insbesondere die muslimische
‚Minderheitskultur‘ gewinnt an Bedeutung – und ihre religiös-kulturelle
Substanz ist weit stärker ausgeprägt und präsenter als jene der
christlich-abendländischen ‚Mehrheitskultur‘. Die Kategorien
‚Mehrheitskultur‘ und ‚Minderheitskultur‘, ‚kulturelle Dominanz‘ und
‚kulturelle Toleranz‘ lösen sich auf oder müssen zumindest neu
definiert werden: Wenn in Deutschland einerseits der deutschstämmige
Bevölkerungsanteil massiv altert und schrumpft, andererseits der Anteil
der Einwanderer und ihrer Nachkommen sich verjüngt und wächst – wer
toleriert dann eigentlich in Zukunft wen?
Wir können auf diese Situation auf zwei Weisen reagieren: Entweder wir
erklären die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert, proklamieren
eine abendländische Leitkultur und entwickeln ein Konzept westlicher
kultureller Dominanz. Oder wir erklären die monokulturelle Gesellschaft
für gescheitert, proklamieren einen umfassenden Pluralismus und
entwickeln ein Konzept multikulturellen Zusammenlebens. Im Seminar
werden wir zunächst die gegebene Situation genauer untersuchen
(verschwindet die ‚abendländische‘ kulturelle Dominanz tatsächlich? Was
bedeutet ‚Wiederkehr der Religion‘ – und wie sieht sie aus?). Im
zweiten Schritt werden Möglichkeiten vorgestellt und diskutiert, auf
die gegebene Situation zu reagieren (Bekenntnis zu Leitkultur und
kultureller Dominanz; Pluralismus; Multikulturalismus). Dabei wird
schließlich auch die Rolle von Christentum und katholischer Kirche
thematisiert werden (gibt es ein Konzept einer pluralistischen
praktischen Theologie? Welche Aufgaben hat die Kirche in einer
multikulturellen Gesellschaft? Bietet die ‚Wiederkehr der Religion‘
Chancen für die traditionellen christlichen Religionsgemeinschaften?).
Ein besonderer Schwerpunkt soll auf der kulturellen Selbstbeobachtung
der westeuropäischen Kultur liegen: Wie schlägt sich das Thema in der
zeitgenössischen Kunst nieder, die (neben den Religionsgemeinschaften?)
die wichtigste Trägerin der Kultur ist. Der deutsche Dramatiker Botho
Strauß schreibt, dass mit der Herausforderung durch die muslimische
Parallelgesellschaft und der damit einhergehenden Notwendigkeit für die
westliche Gesellschaft, sich dazu zu Positionieren, zumindest die Zeit
der kulturellen „Gleich-Gültigkeit in eine Krise geraten [ist].
Vielleicht darf man sagen: Wir haben sie hinter uns. Es war eine
schwache Zeit!“
Begleittexte
Basistext
Einführende Literatur
-
Botho Strauß, Der Konflikt, in: Der Spiegel 7/2006.
-
Elisabeth Noelle, Der Kampf der Kulturen. Die Deutschen sehen mit
zusammengebissenen Zähnen der Bedrohung entgegen, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 15.09.2004.
- Werner Schiffauer, Falsche Gleichungen.
Türken, Deutsch-Türken und ihre Gemeinden in Deutschland:
Parallelgesellschaften und Integration, in: Süddeutsche Zeitung vom
04./05.12.2004.
- Ulrich Beck, Globalisierung des Hasses.
Parallelgesellschaften und Multi-Kulti-Träume, in: Süddeutsche Zeitung
vom 20./21.11.2004.
- Rainer Forst, Toleranz im Konflikt.
Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs,
Frankfurt: Suhrkamp 2003.
-
Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt: Fischer 1997.
-
Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt: Suhrkamp 2002.