Die Geschichte des Lehrstuhls

Die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts stellte für die Katholische Kirche eine große Herausforderung dar. Lange Zeit versuchte man, mit den traditionellen Mitteln der Caritas der sozialen Probleme in der Praxis Herr zu werden und versuchte, in der Theorie Modelle einer erneuerten Ständegesellschaft zu entwickeln. Nach einem langen Ringen um den richtigen Weg zur Bewältigung der Sozialen Frage stellten sich die Vertreter der neu entstandenen katholischen Sozialbewegung auf den Boden der marktwirtschaftlichen Ordnung, um diese auf dem Weg staatlicher Sozialpolitik und gesellschaftlicher sowie genossenschaftlicher Selbsthilfe menschenwürdig zu gestalten. Auf den Katholikentagen wurde der eigenständige Charakter der sozialen Frage durch die Einrichtung eines eigenen Ausschusses 1896 hervorgehoben. Dieser trat neben den Caritas-Ausschuss, der diese Thematik bis dahin mitbehandelt hatte. Durch die Sozialenzyklika Leos XIII., „Rerum Novarum“ von 1891, erhielt die Position einer zwar liberalismuskritischen, aber doch grundsätzlichen Bejahung der marktwirtschaftlichen Ordnung großen Auftrieb.

 

Die Herausforderung der Sozialen Frage schlug sich auch in der Theologie nieder, indem z. B. wissenschaftliche Wettbewerbe zu sozialethischen Themen veranstaltet wurden. Nachdem bereits seit 1885 in Münster Lehrveranstaltungen zu sozialen Fragen angeboten worden waren, wurde 1893 dort erstmals eine eigenständige Professur für Christliche Gesellschaftslehre eingerichtet, die bis 1920 die einzige in Deutschland bleiben sollte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges entstand nur noch in Bonn ein weiterer Lehrstuhl für diese neue Fachrichtung. Erst in den Fünfziger Jahren wurden an den meisten theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum entsprechende Professuren eingerichtet.

 

Äußerer Anlass für die Errichtung des Extraordinariats für „Christliche Gesellschaftslehre unter besonderer Berücksichtigung der praktischen Seelsorge“ war das Freiwerden der einzigen staatswissenschaftlichen (nationalökonomischen) Professur der philosophischen Fakultät der damaligen Akademie Münster, der damals einzigen Fakultät neben der theologischen, deren volkswirtschaftliche Vorlesungen nur einen geringen Hörerkreis gefunden hatten.


Am 13. Juni 1893 wurde Franz Hitze (1851-1921) zum außerordentlichen Professor ernannt und am 2. Juli zugewiesen. Während seiner Lehrtätigkeit befasste er sich fast ausschließlich mit Fragen der Sozialpolitik; Themen waren sowohl die Arbeiterschutzpolitik als auch die Sozialversicherung sowie Probleme anderer von der Industrialisierung betroffener Bevölkerungsgruppen, vor allem in der Landwirtschaft. Später widmete er sich zeitbezogenen Fragen, so las er bspw. im Wintersemester 1918/19 über „Die Soziallehren und der Krieg“ und 1919 über „Die Katholiken im neuen Deutschland“.

 

Heinrich Weber B1922 trat Heinrich Weber (1888-1946) die Nachfolge von Franz Hitze an. Seine Professur für „Wirtschaftliche Staatswissenschaften, Gesellschaftslehre und Fürsorgewesen“ war von 1922 bis 1933 in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, erst danach in der Katholisch-Theologischen Fakultät angesiedelt. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit lagen im Bereich der Sozialpolitik, der Sozialfürsorge und der Betriebwirtschaftslehre caritativer Einrichtungen, vor allem der Caritaswissenschaft. Zusammen mit Peter Tischleder entstand 1930 eine „Einführung in die Sozialwissenschaften“ und 1931 als erster Teil des „Handbuches der Sozialethik“ eine über 500 Seiten lange Schrift über Wirtschaftsethik. 1935 wurde Weber vom nationalsozialistischen Regime an die Theologische Fakultät der Universität Breslau strafversetzt, von der er 1945 nach Münster zurückkehrte.

Zwischen 1936 und 1944 hatte Peter Tischleder, der zuvor Professor für Moraltheologie in Münster gewesen war, den Lehrstuhl inne.

 

Die Gründung des Instituts Bild1

Unter der Leitung von Joseph Höffner (1906-1987) wurde der Lehrstuhl 1951 zum „Institut für Christliche Sozialwissenschaften“ ausgebaut. Während seiner Zeit als Institutsdirektor betreute Höffner zehn wirtschafts- und sozialwissenschaftliche und fünf theologische Dissertationen, auch die Breitenwirkung des Instituts wurde gefördert, indem eine eigene Schriftenreihe („Schriften des Instituts für Christliche Sozial-wissenschaften“), das „Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften“ und das „Diplom für Christliche Sozialwissenschaften“ begründet wurden.

 

Höffners wissenschaftliche Arbeit war vor allem durch wirtschafts- und sozial-politische Fragestellungen geprägt, des Weiteren war er geistlicher Beirat des Bundes Katholischer Unternehmer und wissenschaftlicher Politikberater in den wiss. Beiräten verschiedener Bundesministerien (u.a. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung). Nach der Ernennung Joseph Höffners zum Bischof von Münster blieb der Lehrstuhl von 1962-64 vakant.

 

Wilhelm Weber

Von 1964 bis 1983 war Wilhelm Weber (1925-1983) Direktor des Instituts. Neben wirtschaftsethischen Fragen, vor allem der Rolle des Unternehmers in der Marktwirtschaft sowie Eigentum und Mitbestimmung, stand für ihn seit Anfang der 70er Jahre die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus im Zusammenhang mit der „Theologie der Befreiung“ im Vordergrund. Nach seinem frühen Tod ergab sich wiederum eine längere Lehrstuhlvakanz.

FurgerErst im Sommersemester 1987 wurde der Lehrstuhl mit dem Schweizer Moraltheologen und Sozialethiker Franz Furger (1935-1997) neu besetzt. Geprägt durch die nachkonziliaren Aufbrüche begründete er ein Verständnis der Christlichen Sozialwissenschaften von der theologischen Ethik her. In seiner Arbeit fanden politisch-ethische, wirtschaftsethische und ökologische Themen ebenso Platz wie medizin- und bioethische Fragen, mit denen Furger durch sein Engagement als Delegierter in der bioethischen Kommission des Europarates intensiv befasst war. In vielem knüpfte er an Höffners Anspruch breiter öffentlicher Wirksamkeit des ICS an: Er pflegte interdisziplinäre Kontakte u. a. zu Vertretern der Wirtschaftswissenschaften, der medizinischen Fakultät und zum Lateinamerika-Zentrum der WWU; eng arbeitete er mit Karl-Wilhelm Dahm, dem Direktor des Instituts für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät zusammen. Vielfältige Beratertätigkeiten, die Neubelebung der Schriftenreihe, ein neues Konzept für das Jahrbuch und eine unermüdliche eigene Publikations- und Vortragstätigkeit prägten bis zu seinem unerwarteten frühen Tod 1997 sein Wirken am ICS.

GabrielFurgers Nachfolge trat zum Wintersemester 1998/99 mit Karl Gabriel (*1943) erstmals ein Nicht-Kleriker an. Als Theologe und Soziologe – Gabriel war von 1990 bis 1998 Professor für Soziologie, Pastoralsoziologie und Caritaswissenschaft an der Katholischen Fachhochschule Osnabrück/Vechta gewesen – gab er dem Institut wieder eine stärker sozialwissenschaftliche Ausrichtung. Er führte wichtige christentums- und kirchen-soziologische Projekte am ICS durch (u.a. die Studie „Ausländische Priester in Deutschland“); auch legte er als Mitantragsteller in der ersten Phase der Münsterschen Exzellenzinitiative den Grundstein für eine enge Verknüpfung zwischen dem Institut und dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“, in dessen Rahmen er bis heute mit seinen Mitarbeiter*innen mehrere Forschungsprojekte betreibt.

Nach der Emeritierung Karl Gabriels wurde 2009 mit Marianne Heimbach-Steins (*1959)Mhs erstmals eine Wissenschaftlerin Direktorin des Instituts.

Von 1987 bis September 2018 befand sich das Institut für Christliche Sozialwissenschaften in den Räumen des Hüfferstifts in der Hüfferstraße 27. Vormals war es in der Pferdegasse 3 beheimatet. Nach mehr als 25 Jahren musste das ICS seinen Standort in der Hüfferstiftung aufgrund von Sanierungsmaßnahmen in Vorbereitung auf den zukünftigen Campus der Theologien an der WWU aufgeben. Ende September 2018 zog das Institut aus dem Hüfferstift aus und ein paar hundert Meter weiter in der Robert-Koch-Straße 29 ein, wo die Büros des Instituts nun im vierten Stockwerk untergebracht sind. In einigen Jahren wird das ICS dann räumlich in den fertigen Hüffer-Campus, den geplanten Campus der Theologien, eingegliedert.

Die Bibliothek des Instituts befindet sich weiterhin in der Gemeinschaftsbibliothek in dem Gebäude der alten Hüfferstiftung. Die Fassade und die hohen Räume des Gebäudes erinnern zu Recht an ein Krankenhaus, denn bis 1984 beheimatete das Haus eine Orthopädische Klinik. Aufgrund der unzureichenden Kapazität des Gebäudes der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Johannisstraße wurden seit 1987 einige Seminare und Institute in das Hüfferstift verlagert und 1997 in der ehemaligen Krankenhauskapelle eine gemeinsame Bibliothek der theologischen Seminare eröffnet. Das Institut für Christliche Sozialwissenschaften ist darin mit über 45.000 Titeln vertreten.