© Liáng Kǎi 梁楷 (b. 12th century); Mitsui Memorial Museum, Tokyo, Japan

1.10.2024

Tobias E. Gronbach

Die methodologische Funktion der Hagiographie Huinengs

Eine religionsphilosophische Untersuchung des Plattform-Sutras in der Fassung des Dunhuang-Textes

Inwiefern lassen sich diejenigen Überzeugungen als rational ausweisen, durch die man beim Vollzug einer religiösen Praxis angeleitet ist? Diese Frage kann sowohl für Menschen relevant werden, die an einer religiösen Praxis teilnehmen, als auch für Menschen, die dies nicht tun. Um verstehen zu können, was mit dieser Frage genau gemeint ist, muss man unter anderem klären, was es heißen kann, eine Überzeugung als rational auszuweisen. Im Rahmen des hier vorgestellten Projekts wird in diesem Zusammenhang ausschließlich darauf näher eingegangen, dass dies heißen kann, diejenigen Überzeugungen, durch die man beim Vollzug einer religiösen Praxis angeleitet ist, methodisch kontrolliert auf Gründe zu stützen (und also eben dadurch zu rationalen Überzeugungen zu machen).

In vielen Religionen hat die Beschäftigung mit der Frage, wie religionsspezifische praxisanleitende Überzeugungen methodisch kontrolliert auf Gründe gestützt werden können, eine lange Tradition. Das hier vorgestellte Projekt hat das Ziel, eine Antwort auf diese Frage zu rekonstruieren, die in einem Text aus dem chinesischen Zen-Buddhismus (Chán 禪) der Tang-Zeit (Tángdài 唐代; 618–907 u. Z.) zum Ausdruck kommt. Es handelt sich bei diesem Text um die Hagiographie Huinengs (Huìnéng 惠能; trad. 638–713 u. Z.), wie sie in Gestalt des Dunhuang-Textes vorliegt, d. i. die älteste heute bekannte noch existierende Textvariante des sog. (Liuzu-)Plattform-Sutras (Liùzǔtánjīng 六祖壇經). Der Dunhuang-Text ist vermutlich im ausgehenden 8. Jh. entstanden. In dieser Textvariante wird Huineng hagiographisch u. a. zugeschrieben, einen möglichen Zugang dazu anzubieten, die religiöse Lehre des Zen-Buddhismus als eine Lehre nachzuvollziehen, die in methodisch kontrollierter Weise auf Gründe gestützt ist.

Das hier vorgestellte religionsphilosophische Projekt hat das Ziel, die in diesem Zusammenhang relevante methodologische Position, welche Huineng hagiographisch zugeschrieben wird, zu rekonstruieren. Hiermit will dieses Projekt insbesondere etwas dazu beitragen, die Vielfalt des Zen-Buddhismus weiter sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang wird das Urteil, dass Zen-Buddhismus mit Rationalität zu guter Letzt nichts zu tun haben könne, als Vorurteil ausgewiesen, welches sich mit der für den Zen-Buddhismus grundlegenden* Hagiographie Huinengs nicht vereinbaren lässt. Darüber hinaus will das hier vorgestellte Projekt etwas zu solchen religionsphilosophischen und interkulturell-theologischen Diskursen beitragen, die deshalb am Zen-Buddhismus interessiert sind, weil sie einerseits Überschneidungen anderer Religionen mit dem Zen-Buddhismus und andererseits Unterschiede zwischen demselben und jenen anderen Religionen sichtbar machen wollen.


* Der Hagiographie Huinengs kommt in allen heute noch bestehenden sog. Schulen des Zen-Buddhismus deshalb eine grundlegende Bedeutung zu, weil Huineng von allen diesen Schulen anerkannt wird als die sechste Person in der chronologischen Abfolge ranghöchster Autoritäten des Zen-Buddhismus im chinesischsprachigen Raum. Diese Stellung wird auch von einem der zen-buddhistischen Titel Huinengs angezeigt: Liuzu (Liùzǔ 六祖; wörtlich übersetzt: Sechste*r Ahn*in).