© Liáng Kǎi 梁楷 (b. 12th century); Mitsui Memorial Museum, Tokyo, Japan

1.10.2024

Tobias E. Gronbach (seit Mai 2024)

Die methodologische Funktion der Hagiographie Huinengs

Eine religionsphilosophische Untersuchung des Plattform-Sutras in der Fassung des Dunhuang-Museum-Textes Nr. 077

Inwiefern lassen sich diejenigen Überzeugungen als rational ausweisen, durch die man beim Vollzug einer religiösen Praxis angeleitet ist? Diese Frage kann sowohl für Menschen relevant werden, die an einer religiösen Praxis teilnehmen, als auch für Menschen, die dies nicht tun. Um verstehen zu können, was mit dieser Frage genau gemeint ist, muss man unter anderem klären, was es heißen kann, eine Überzeugung als rational auszuweisen. Im Rahmen des hier vorgestellten Projekts wird in diesem Zusammenhang ausschließlich darauf näher eingegangen, dass dies heißen kann, diejenigen Überzeugungen, durch die man beim Vollzug einer religiösen Praxis angeleitet ist, methodisch kontrolliert auf Gründe zu stützen (und also eben dadurch zu rationalen Überzeugungen zu machen).

In vielen Religionen hat die Beschäftigung mit der Frage, wie religionsspezifische praxisanleitende Überzeugungen methodisch kontrolliert auf Gründe gestützt werden können, eine lange Tradition. Das hier vorgestellte Projekt hat das Ziel, eine Antwort auf diese Frage zu rekonstruieren, die in einem Text aus dem chinesischen Zen-Buddhismus (Chán 禪) der Tang-Zeit (Tángdài 唐代; 618–907 u. Z.) zum Ausdruck kommt. Es handelt sich bei diesem Text um die Hagiographie Huinengs (Huìnéng 惠能; trad. 638–713 u. Z.), wie sie in Gestalt des Dunhuang-Museum-Textes Nr. 077 vorliegt, d. i. die älteste heute bekannte noch existierende Textfassung des sog. (Liuzu-)Plattform-Sutras (Liùzǔtánjīng 六祖壇經). Huineng wird in dieser vermutlich am Anfang des 9. Jh. entstandenen Textfassung hagiographisch zugeschrieben, einen möglichen Zugang dazu anzubieten, die religiöse Lehre des Zen-Buddhismus als eine Lehre nachzuvollziehen, die in methodisch kontrollierter Weise auf Gründe gestützt ist.

Das hier vorgestellte religionsphilosophische Projekt hat das Ziel, die in diesem Zusammenhang relevante methodologische Position, welche Huineng hagiographisch zugeschrieben wird, zu rekonstruieren. Hiermit will dieses Projekt insbesondere etwas dazu beitragen, die Vielfalt des Zen-Buddhismus weiter sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang wird das sowohl außerhalb als auch innerhalb des Zen-Buddhismus relativ weit verbreitete Urteil, dass Zen-Buddhismus nichts mit Rationalität am Hut hätte, als Vorurteil ausgewiesen, welches sich mit der für den Zen-Buddhismus grundlegenden* Hagiographie Huinengs nicht vereinbaren lässt. Darüber hinaus will das hier vorgestellte Projekt etwas zu solchen religionsphilosophischen und interkulturell-theologischen Diskursen beitragen, die deshalb am Zen-Buddhismus interessiert sind, weil sie einerseits Überschneidungen anderer Religionen mit dem Zen-Buddhismus und andererseits Unterschiede zwischen demselben und jenen anderen Religionen sichtbar machen wollen.


* Der Hagiographie Huinengs kommt in allen heute noch bestehenden sog. Schulen des Zen-Buddhismus deshalb eine grundlegende Bedeutung zu, weil Huineng von allen diesen Schulen als sechste Person in der chronologischen Abfolge ranghöchster Autoritäten des Zen-Buddhismus anerkannt wird. Diese Stellung wird auch von einem der zen-buddhistischen Titel Huinengs angezeigt: "Liuzu" (Liùzǔ 六祖; wörtlich übersetzt: Sechste*r Ahn*in).


Detailliertere Projektbeschreibung


 

1.10.2024

Tobias E. Gronbach (seit Mai 2024)

Die methodologische Funktion der Hagiographie Huinengs

Eine religionsphilosophische Untersuchung des Plattform-Sutras in der Fassung des Dunhuang-Museum-Textes Nr. 077

Im China der Tang-Zeit (Tángdài¹ 唐代; 618–907 u. Z.) lebte angeblich eine herausragende zen-buddhistische Lehrperson namens Huineng (Huìnéng 惠能; trad. 638–713 u. Z.). Alle heute noch bestehenden sog. Schulen des Zen-Buddhismus schreiben Huineng zu, Liuzu (Liùzǔ 六祖; wörtlich übersetzt: Sechste*r Ahn*in) zu sein, d. h. die sechste Person in der chronologischen Abfolge ranghöchster Autoritäten des Zen-Buddhismus.² Bereits in der Tang-Zeit wurde im chinesischen Zen-Buddhismus (Chán 禪) versucht, durch hagiographisch idealisierende Darstellungen von Liuzu Huinengs Leben die zen-buddhistische Praxis zu regulieren. Nachvollziehen lässt sich dies unter anderem im sog. Liuzu-Plattform-Sutra (Liùzǔtánjīng 六祖壇經); kurz: Plattform-Sutra.

Die erste Textfassung des Plattform-Sutras wurde vermutlich im ausgehenden 8. Jh. von einem Kollektiv gelehrter Menschen kompiliert; und zwar aus hagiographischem Material, welches mindestens teilweise nicht von diesem Kollektiv selbst erarbeitet wurde. Die älteste heute bekannte noch existierende Textfassung des Plattform-Sutras ist eine vermutlich im 9. Jh. entstandene handschriftliche Kopie einer älteren Textfassung. Es handelt sich bei dieser handschriftlichen Kopie um den sog. Dunhuang-Museum-Text Nr. 077 (DMT-077).³ Das hier vorgestellte religionsphilosophische Projekt ist, wie auch im Untertitel desselben angezeigt wird, auf die Hagiographie Huinengs beschränkt, wie sie im Plattform-Sutra in der DMT-077-Fassung vorliegt.

Huineng wird in DMT-077 hagiographisch zugeschrieben, vor mehr als zehntausend Menschen eine Lehrrede beim Dafan-Tempel (Dàfànsì 大梵寺; heute: Dàjiànsì 大鑒寺) in Shaozhou (Sháozhōu 韶州; heute: Sháoguān 韶關 / Kurzzeichenschreibweise: 韶关) im Südosten des tang-zeitlichen Chinas gehalten zu haben. Im Rahmen dieser Lehrrede beschreibt Huineng zunächst rückblickend einige zentrale Ereignisse seines Lebens, z. B. die Ernennung zum Liuzu. Anschließend geht Huineng dazu über, eine religiöse Lehre vom Dharma (fǎ 法) darzustellen, wobei Huineng auch auf den von ihm selbst angebotenen Zugang zum Dharma näher eingeht.

Das Ziel des hier vorgestellten Projekts ist es, zu zeigen, wie sich Huinengs Rede von seinem Zugang zum Dharma sinnvoll rekonstruieren lässt als Rede von einer Methode zur Begründung von Überzeugungen, die für die zen-buddhistische Praxis relevant sind. Zu solchen Überzeugungen gehört Huineng zufolge beispielsweise die religiöse Überzeugung, dass es nur möglich ist, etwas vollauf zu verstehen, wenn es in Verbindung mit der sog. Buddha-Natur (fóxìng 佛性) erfasst wird. Mit dem hier vorgestellten Projekt soll gezeigt werden, wie Liuzu Huineng im Plattform-Sutra hagiographisch als eine Person dargestellt wird, die eine Lösung für das Problem anbietet, wie derartige religiöse Überzeugungen methodisch kontrolliert auf Gründe gestützt werden können.

Eine Praxis, deren Vollzug angeleitet ist durch Überzeugungen, welche zumindest dem Anspruch nach auf Gründe gestützt sind, daher kritisiert und als mehr oder weniger gut begründete Überzeugungen ausgewiesen werden können, kann man als rationale Praxis bezeichnen. Wenn also mit der zen-buddhistischen Hagiographie Huinengs versucht wird, ein methodisches Problem zu lösen, das die Begründung religiöser Überzeugungen betrifft, dann kann diese Hagiographie (unter anderem) auch als ein Beitrag zum Zen-Buddhismus verstanden werden, durch den versucht wird zu zeigen, wie zen-buddhistische Praxen, insofern deren Vollzug durch religiöse Überzeugungen angeleitet ist, auf rationale Weise vollzogen werden können. – Das mindestens in nicht-wissenschaftlichen Kontexten relativ weit verbreitete Urteil, dass Zen-Buddhismus nichts mit Rationalität am Hut hätte, wird auf diesem Wege als Vorurteil ausgewiesen. Darüber hinaus kommt auf diesem Wege eine spezifisch zen-buddhistische Rationalitätsform in den Blick, welche die bereits (mehr oder weniger) bekannten Rationalitätsformen vor die philosophisch interessante Aufgabe stellt, sich zu dieser anderen Rationalitätsform zu verhalten.

Die These, die das hier vorgestellte Projekt begründen will, lautet wie folgt: Die methodologische Funktion der Hagiographie Huinengs besteht darin, eine Antwort auf die Frage anzubieten, wie religiöse Überzeugungen, durch die man beim Vollzug zen-buddhistischer Praxen angeleitet ist, methodisch kontrolliert auf Gründe gestützt und hierdurch bloße Willkür sowie Irrtümer abgewendet werden können.

Das Ziel des hier vorgestellten religionsphilosophischen Projekts ist die Begründung der soeben genannten These. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die in DMT-077 vorfindliche Antwort Huinengs auf die zuletzt genannte Frage als Argument rekonstruiert. Bei der Rekonstruktion dürfen Eigenheiten des zen-buddhistischen Sprachgebrauchs selbstverständlich nicht einfach übergangen werden. Deshalb wird der Huineng hagiographisch zugeschriebene Sprachgebrauch bei der Argumentrekonstruktion unter Berücksichtigung des gesamten DMT-077-Textes sowie unter Berücksichtigung von Stellen anderer Texte, die in DMT-077 im Zusammenhang mit Huinengs Antwort erwähnt werden, expliziert. Wo es der Erreichung der Zwecke des vorgestellten Projekts dient, wird auf Übersetzungen von DMT-077 ins Englische zurückgegriffen (eine Übersetzung von DMT-077 ins Deutsche liegt bisher nicht vor). Der chinesische Originaltext wird unter Berücksichtigung chinesischer Editionen herangezogen. Auf Grundlage dieser chinesischen Editionen wird kritisch mit den englischen Übersetzungen umgegangen.

Im Hinblick auf den Kontext weiterführender Forschung zielt das hier vorgestellte Projekt unter anderem darauf ab, etwas zur Grundlage beizutragen, von der ausgehend es möglich ist, nach dem Verhältnis spezifisch zen-buddhistischer Rationalitätsformen zu fragen (z. B. nach dem Verhältnis der Form aus DMT-077 und Formen aus späteren Textfassungen des Plattform-Sutras oder aus anderen zen-buddhistischen Texten). Anschlussfähig will das hier vorgestellte Projekt insbesondere auch für religionsphilosophische und interkulturell-theologische Diskurse über religiös geprägte Formen der Rationalität sein, wobei diese Diskurse thematisch nicht auf den Zen-Buddhismus beschränkt sein müssen. Um diese Anschlussfähigkeit zu gewährleisten, muss bei Darstellung der in DMT-077 entfalteten Rationalitätsform insbesondere expliziert werden, inwiefern sie von Annahmen abhängig ist, für die in DMT-077 vertreten wird, dass sie nur plausibel werden können aus Perspektive eine*r Teilnehmer*in an einer buddhistischen Praxis – sei sie zen-buddhistisch, allgemeiner mahayana-buddhistisch oder allgemein buddhistisch.


¹ Überall dort, wo eine (mögliche) Lautung von Ausdrücken, die aus chinesischen Schriftzeichen bestehen, angegeben wird, geschieht dies mithilfe des Pinyin-Systems zur Transkription der Lautung des sog. Modernen Standardchinesisch.

² Es ist in der Forschungsliteratur unstrittig, dass mit der Anerkennung Huinengs als Liuzu einhergeht, Huineng als die sechste Person in der chronologischen Abfolge ranghöchster Autoritäten des Zen-Buddhismus anzuerkennen. Liuzu Huineng wird von der US-amerikanischen und europäischen Forschungsliteratur i. d. R. als Sechster Patriarch des Zen-Buddhismus bezeichnet. Um nicht in die Verlegenheit zu geraten, dafür argumentieren zu müssen, inwiefern diese Bezeichnung angemessen ist, wird im Rahmen des hier vorgestellten Projekts nicht vom Sechsten Patriarchen Huineng, sondern von Liuzu Huineng die Rede sein und es wird bei Bedarf näher bestimmt, was es bedeutet, dass Huineng Liuzu ist.

³ Dieser Text wird im Stadtmuseum Dunhuangs (Dūnhuángshì bówùguǎn 敦煌市博物館 / Kurzzeichenschreibweise: 敦煌市博物馆) aufbewahrt und ist dort unter den buddhistischen Texten als Text Nr. 077 katalogisiert. DMT-077 wird in der Forschungsliteratur auch deshalb Dunhuang-Museum(!)-Text (Dūnbóběn 敦博本) genannt, um zwischen dieser Textfassung und einer anderen in den Wüstengrotten Dunhuangs geborgenen Textfassung des Plattform-Sutras zu unterscheiden. Diese andere Textfassung des Plattform-Sutras wird heute in der sog. Stein-Kollektion im Britischen Museum in London aufbewahrt und ist dort als Text Nr. 5475 katalogisiert.