Projekt
Das Projekt „Schulformempfehlungen nach dem Gemeinsamen Lernen (SeGeL)“ befasst sich mit der pädagogischen Diagnostik am Übergang zur weiterführenden Schule bei Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) im Bereich Emotional-Soziale Entwicklung (ESE) und Lernen (LE).
Die Qualität von Diagnostik wird oftmals rein ergebnisorientiert bewertet, indem als Maßstab die Akkuratheit des Urteils dient. Diese lässt sich im Fall der Diagnostik am Übergang aber nicht sinnvoll überprüfen, da pädagogische Entscheidungen wie die Diagnostik am Übergang auf Basis komplexer Merkmale und ihrer Wechselbeziehungen zu treffen sind (van Ophuysen, 2006). Das Vier-Komponenten-Modell der Diagnosequalität (Behrmann & van Ophuysen, 2017; Lintorf et al., 2016) erweitert den Blick auf die Qualität von Diagnostik. Zum einen sieht es neben der Akkuratheit weitere Merkmale der Ergebnisqualität vor (z. B. die Fairness und Transparenz eines Urteils). Zum anderen legt es mit der Informationsverarbeitung und -erfassung insbesondere den Fokus auf Prozessmerkmale der Diagnostik.
Zur Bewertung der Diagnosequalität betrachten wir daher die Prozesskomponenten der Informationserfassung. Diese beeinflusst nicht zuletzt die Ergebnisqualität der Diagnose (Hasselhorn & Gold, 2009) und deckt des Weiteren die handlungsnahen, somit vergleichsweise leicht instruier- und veränderbaren Teile des diagnostischen Prozesses ab. Darüber hinaus untersuchen wir im Rahmen der Ergebnisqualität das urteilsbezogene Merkmal der Fairness.
Das sequentiell angelegte Mixed-Methods-Projekt besteht aus zwei gleichberechtigten Teilstudien, die beide mit unterschiedlicher Gewichtung sowohl Qualitätskriterien der diagnostischen Informationserfassung (Prozess) als auch der Urteilsfairness (Ergebnis) analysieren.
Studie 1 ist als multiple Fallstudie angelegt (Yin, 2018). Als Fall verstehen wir den an einer Schule etablierten diagnostischen Prozess, der zur (informellen) Übergangsempfehlung für Kinder mit SPF führt. Studie 1 trägt in erster Linie dazu bei, das Vier-Komponenten-Modell der Diagnosequalität für den konkreten Diagnoseanlass, zu spezifizieren und ggf. zu erweitern. Dabei betrachten wir die Informationserfassung: Wie ist die kindbezogene Diagnostik im Kontext des Übergangsprozesses mit Blick auf Methoden, Dokumentation, multiprofessionelle Kooperation sowie Prozess-Implementation ausgestaltet? Im Fokus steht außerdem die Identifikation förderlicher bzw. herausfordernder Rahmenbedingungen und mehr oder weniger konstruktiver Möglichkeiten des Umgangs mit diesen. Des Weiteren werden kindbezogene, familiäre und schulstrukturelle Informationen identifiziert, die aus Sicht der Lehrkräfte relevant für den Übergangsprozess sind. Neben der Modellerweiterung und -spezifizierung fließen die Ergebnisse zur Prozessqualität auch in die Konstruktion des Erhebungsinstrumentes für die quantitative Studie 2 ein.
Das Augenmerk von Studie 2 liegt zunächst auf der Analyse (statistisch relevanter) Prädiktoren als Indikatoren für die Fairness: Wie bedeutsam sind neben den schulerfolgsrelevanten Merkmalen des Kindes Aspekte seines familiären/sozialen Umfeldes sowie schulstrukturelle Rahmenbedingungen, die zu sozialen/regionalen Disparitäten beitragen? Welche Rolle spielen darüber hinaus individuelle Einstellungen/Überzeugungen der Lehrkräfte? Weiterhin liefert Studie 2 eine quantifizierende Verallgemeinerung von Erkenntnissen aus Studie 1 über die Rahmenbedingungen und die Ausgestaltung des diagnostischen Prozesses.
Literatur
Behrmann, L. & van Ophuysen, S. (2017). Das Vier-Komponenten-Modell der Diagnosequalität. In A. Südkamp & A.-K. Praetorius (Hrsg.), Diagnostische Kompetenz von Lehrkräften. Theoretische und methodische Weiterentwicklungen (S. 38–41). Münster: Waxmann.
Ditton, H. & Krüsken, J. (2009). Bildungslaufbahnen im differenzierten Schulsystem. Entwicklungsverläufe von Laufbahnempfehlungen und Bildungsaspirationen in der Grundschulzeit. In J. Baumert, K. Maaz & U. Trautwein (Hrsg.), Bildungsentscheidungen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Sonderheft 12 | 2009 (S. 74–102). Wiesbaden: VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92216-4_4.
Hasselhorn, M. & Gold, A. (2009). Pädagogische Psychologie. Erfolgreiches Lernen und Lehren (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
Klicpera, C. & Gasteiger-Klicpera, B. (2004). Beratung der Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Bezug auf die Wahl der Schul- bzw. Unterrichtsform: Sichtweise der Schulaufsicht. Heilpädagogische Forschung, 30 (1), 29–42.
Kocaj, A., Kuhl, P., Kroth, A. J., Pant, H. A. & Stanat, P. (2014). Wo lernen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf besser? Ein Vergleich schulischer Kompetenzen zwischen Regel- und Förderschulen in der Primarstufe. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 66 (2), 165–192. https://doi.org/10.1007/s11577-014-0253-x.
Lintorf, K., Behrmann, L. & van Ophuysen, S. (2016). Diagnostik im Lehrerberuf. In M. Rothland (Hrsg.), Beruf Lehrer/Lehrerin. Ein Studienbuch (S. 187–203). Münster: Waxmann.
van Ophuysen, S. (2006). Zur Problematik der Schulformempfehlung nach der Grundschulzeit und ihrer prognostischen Qualität [On the problem of school type recommendation after primary school and its prognostic quality]. In W. Bos, H. G. Holtappels, H. Pfeiffer, H.-G. Rolff & R. Schulz-Zander (Hrsg.), Jahrbuch der Schulentwicklung. Daten, Beispiele und Perspektiven (Bd. 14, S. 49–79). Weinheim: Juventa.
Yin, R. K. (2018). Case study research and applications. Design and methods (6th ed.). Los Angeles, CA: Sage. Zurbriggen, C. L. A., Venetz, M., Schwab, S. & Hessels, M. G. P. (2019). A psychometric analysis of the student version of the Perceptions of Inclusion Questionnaire (PIQ). European Journal of Psychological Assessment, 35(5), 641–649. https://doi.org/10.1027/1015-5759/a000443.