Leprosorium Kinderhaus
Leprosorien waren als Einrichtungen zur Versorgung von Menschen, die nach zeitgenössischer Wahrnehmung an Lepra erkrankten, besondere Orte des Rechts. Regelt das Recht für gewöhnlich Belange der Lebenden, so galten Leprakranke dem Gesetzbuch des Langobardenkönigs Rothari († 652) aus dem Jahre 643 zufolge „gleichsam wie Tote“ (tamquam mortuus). Und auch wenn dies später nicht überall zum bestimmenden Ausgangspunkt im rechtlichen Umgang mit Leprakranken wurde, so galten für sie doch in der Vormoderne spezifische Regeln.
Mit der Stiftung des 1333 erstmals urkundlich erwähnten Leprosoriums Kinderhaus folgte man in Münster den kirchenrechtlichen Bestimmungen des Dritten Laterankonzils. Diese Versammlung hoher geistlicher Würdenträger in Rom unter Vorsitz des Papstes beschloss im Jahre 1179, dass Leprakranke getrennt von Gesunden gemeinschaftlich in eigenen Häusern zusammenleben und Gotteshäuser wie auch Friedhöfe haben sollten. Dieses Grundschema lässt die Anlage des ehemaligen Leprosoriums Kinderhaus mit seinen erhaltenen Gebäudeteilen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, den Resten der Umfassungsmauer und der Pfarrkirche St. Josef noch gut erkennen.
Das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner war strengen Regeln unterworfen und glich nahezu dem einer klösterlichen Gemeinschaft. Während die frühesten überlieferten Ordnungen auf das 14. und 15. Jahrhundert zurückgehen, spiegelt sich in den 50 Artikeln der „Rulle“ genannten Hausordnung von 1558 die normative Regelung des Alltags in vielen Facetten wider. Hierzu gehörten vielerlei Verbote wie etwa das Tanzen und Singen, detaillierte Bestimmungen zum Kontakt mit Gesunden, Anweisungen zur Verrichtung der täglichen Gebete und der Gottesdienstbesuche sowie die unbedingte Verpflichtung zur Keuschheit. Regelverstöße wurden in minder schweren Fällen durch zeitlich begrenzten Entzug der Zuwendungen, in schweren Fällen – etwa Geschlechtsverkehr mit gesundem Dienstpersonal – durch dauerhafte Ausweisung aus dem Haus geahndet. Diese Strafe wog besonders schwer, denn die Unterbringung in Kinderhaus bedeutete eine sichere Versorgung bis zum physischen Tod. Ein vom Rat eingesetzter Amtmann sollte seit dem 16. Jahrhundert die Einhaltung der Regeln überwachen, Strafen gegen Regelverstöße verhängen und die Verwaltungsgeschäfte des Hauses führen.
In den meisten Leprosorien wie Kinderhaus konnten oftmals nur etwa 10 bis 12 Leprakranke Aufnahme finden. Die Hausordnung von 1558 legte fest, dass nur Frauen und Männer aufgenommen werden durften, die seit mindestens vier Jahren das Bürgerrecht in Münster besaßen und die zuvor im Rahmen einer körperlichen Untersuchung durch die Lepraschaukommission des Kölner Leprosenhauses Melaten für leprakrank befunden wurden. Der Befund war in Form des Rechtsdokuments einer gesiegelten Schauurkunde vorzulegen.
Kinderhaus war auch ein Rechtsort, an dem sich symbolisch die Lebenden und die Toten begegneten. Dies wird durch die Nähe des Leprosoriums zur Hochgerichtsstätte am Nubbenberg unterstrichen. Nach rechtlichen wie religiösen Vorstellungen lag eben hier ein Übergang vom Diesseits ins Jenseits.
Kay Peter Jankrift
Zum Weiterlesen
Mirko Crabus: Kinderhaus im Mittelalter. Das Leprosorium der Stadt Münster (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster), Münster 2013.
Kay Peter Jankrift: Im Angesicht der „Pestilenz“. Seuchen in westfälischen und rheinischen Städten, 1349-1600 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Beiheft 72), Stuttgart 2020.
Ralf Klötzer: Kinderhaus 1648. Das Leprosenhaus der Stadt Münster in Krieg und Frieden. Ausstellung im Lepramuseum Münster-Kinderhaus zum Jubiläum 350 Jahre Westfälischer Frieden, 25. Januar bis 29. Juni 1998, Münster 1998.
Quelle
Hausordnung des Leprosoriums Kinderhaus
Signatur: Stadtarchiv Münster, C-Arm Kinder / Armenhaus Kinderhaus (Leprosenstiftung), Akte Nr. 177