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„Das römische Recht zeigt eine erstaunliche Offenheit gegenüber fremdartigen Rechtsgewohnheiten“

Interview mit Éva Jakab über griechische Bräuche im römischen Erbrecht

Prof. Dr. Éva Jakab
© KHK EViR

Die Übertragung von Vermögen von einer Generation an die nächste zählt zu den zentralen gesellschaftlichen Prozessen, die schon in der Antike rechtlich gerahmt wurden. Die Rechtshistorikerin Éva Jakab beschäftigt sich intensiv mit antikem Erbrecht und stößt dabei immer wieder auf Fälle, die den allgemeingültigen römischen Rechtsnormen widersprechen. Im Interview erklärt sie, woher diese Rechtsvielfalt stammt und wie die römischen Juristen mit ihr umgingen.

Frau Professorin Jakab, mit welchen Erwartungen haben Sie Ihr Fellowship angetreten und inwieweit haben sich diese bislang erfüllt?

Im Juli 2022 hatte ich die Möglichkeit, an einer Tagung des Käte Hamburger Kollegs teilzunehmen. Schon damals habe ich gesehen, dass das zentrale Thema des Kollegs mit meiner derzeitigen Forschungsrichtung eng verbunden ist. Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Bewerbung für ein Fellowship einzureichen. Es war eine große Freude, dass ich es auch bekommen habe. Das Kolleg hat meine Erwartungen weit übertroffen. Es herrscht hier eine sehr gute Arbeitsatmosphäre: exzellente Wissenschaftler, die miteinander in einem offenen, ehrlichen Austausch stehen und einander freundlich und hilfsbereit gesinnt sind. Die zwei Direktoren des Kollegs, Ulrike Ludwig und Peter Oestmann, sind hervorragende Gelehrte, von denen man sehr viel lernen kann. Mir persönlich haben auch die bisher stattgefundenen „Konzeptforen“ sehr geholfen: Ich bin gerade dabei, mein werdendes Buch nach der dabei kennengelernten neuen Begrifflichkeit umzustrukturieren. Ich habe neue Intuitionen, die mich zu einem erneuten „Neudenken“ motivieren.  

Sie forschen gerade zum römischen Erbrecht. Mit welchen Quellen arbeiten Sie vor allem?

Zu einer kontextualisierten Erfassung der Erscheinungen des Rechtslebens ist es nützlich, wenn man eine breite Palette an Quellen berücksichtigt. Zu den traditionellen Quellen gehören die Schriften der römischen Juristen und die Konstitutionen der römischen Kaiser, die in Form der Gesetzbücher des Kaisers Justinian überliefert sind. Auch die Werke der antiken Autoren, seien es Historiker, Philosophen oder Komödienschreiber, vermitteln wertvolle Kenntnisse darüber, wie gewisse Rechtsnormen von den Zeitgenossen verstanden wurden. Sehr wichtig sind weiterhin die Rechtsurkunden, die auf diversen Schreibmaterialien wie Holztafeln, Wachstafeln und Papyrus festgehalten wurden. Die Urkunden ermöglichen einen Einblick in die Praxis: welche Vertragsklauseln von den Kontrahierenden vereinbart wurden oder wie ein Prozess vorbereitet und abgewickelt wurde. Auch Inschriften können eine wertvolle Quelle der rechtshistorischen Forschung sein: Die inschriftlich erhaltenen Stadtrechte etwa enthalten viele Vorschriften über Verwaltung und Gerichtswesen.

„Erben und Vererben waren eng an den Status des Bürgerrechts geknüpft“
Éva Jakab

Worin unterschied sich das römische von unserem heutigen Erbrecht?

Vermögensverschiebungen auf dem Weg der Erbfolge spielten in der römischen Gesellschaft eine sehr wichtige Rolle. Mitglieder der höheren sozialen Schichten ließen ihr erstes Testament sofort nach Erreichen der Volljährigkeit anfertigen. Testamentarische Verfügungen waren auch ein nicht zu vernachlässigendes Mittel der politischen „Freundschaft“. Erben und Vererben waren jedoch eng an den Status des Bürgerrechts geknüpft. Römische Bürger durften grundsätzlich nur römische Bürger zu Erben oder Vermächtnisnehmern einsetzen. Verfügungen zugunsten von Peregrinen, also Fremden, die nicht das römische Bürgerrecht besaßen, waren bis zum 3. Jahrhundert nach Christus unwirksam. Erben und Vererben waren im sozialen und politischen Leben so signifikant, dass die Gesetzgeber stets ein wachsames Auge darauf hatten.

In den Städten Kleinasiens, wie hier Ephesos, herrschten auch in römischer Zeit weiterhin griechische Rechtsvorstellungen vor.
© Omar Maaroof (Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0

Besonders interessieren Sie sich für Ausnahmen vom allgemeinen Recht, also Fälle, in denen römische Bürger ihre letztwilligen Verfügungen nach lokalen Rechtsbräuchen verfassten. Was für Bräuche waren das und warum griffen einige auf sie zurück?

Das Imperium Romanum umfasste ein enormes Territorium. Römische Bürger lebten nicht nur in Rom und Umgebung, sondern auch in entfernt liegenden Provinzen, wenn ihre Ämter oder Geschäfte sie dorthin geführt hatten. Dazu kam eine beträchtliche Anzahl von „Neubürgern“, denen das römische Bürgerrecht wegen ihrer Dienste, etwa im Heer, verliehen wurde. Die Bevölkerung in der östlichen Reichshälfte, etwa in den griechischen Städten Kleinasiens, hat ihre kulturellen Wurzeln immer beibehalten. Die griechische Sprache und auch griechische Rechtsvorstellungen bestimmten weitgehend die alltäglichen Aktivitäten. Deren Unterschied zum römischen Recht tritt im Erbrecht besonders prägnant hervor. In der lokalen (griechischen) notariellen Praxis galt es zum Beispiel als völlig unproblematisch, letztwillige Verfügungen als Rechtsgeschäfte unter Lebenden zu artikulieren. Man setzte etwa eine Verwahrung mit Drittwirkung ein, um einen größeren Betrag bei einer Vertrauensperson zu deponieren, die das Geld dem eigentlichen Begünstigten erst herauszugeben hatte, wenn dieser seine Mündigkeit erreichte. Auch Römer, die in einer griechischen Umgebung lebten, verfassten ihren letzten Willen manchmal nach solchen „lokalen Formularen“. Aber diese „unrömischen“ Rechtsgeschäfte waren wegen der zwingenden Normen des römischen Erbrechts höchst problematisch.  

Wie gingen die Richter denn mit solchen Ausnahmen um?

Entflammte ein Streit unter den potenziellen Erben, musste ein römischer Gerichtsherr oder ein Jurist der kaiserlichen Kanzlei die vorgelegte letztwillige Verfügung nach den Kriterien des römischen Rechts auslegen. Zweifelsohne wurde die fremdartige Praxis in manchen Fällen als unwirksam abgelehnt. In anderen Fällen kann man jedoch beobachten, dass die Juristen versuchten, den Sachverhalt nach den Begriffen des römischen Rechts so zu deuten, dass der Wille des Erblassers gewahrt blieb. Die Ausnahmen wurden also nicht nur oft geduldet, sie dienten sogar nicht selten als Grundlage der Rechtsentwicklung. Das römische Recht zeigt dabei eine erstaunliche Flexibilität und Offenheit gegenüber fremdartigen Rechtsgewohnheiten.

Mussten sich auch die Bewohner der Provinzen ans römische Recht halten oder durften sie ihre eigenen Rechtsbräuche weiterpflegen?

Die Bewohner der Provinzen, die kein römisches Bürgerrecht besaßen, konnten ihre privatrechtlichen Rechtsgeschäfte unbehelligt nach ihren lokalen Rechtsvorstellungen abwickeln. Die römischen Behörden wandten in dieser Hinsicht grundsätzlich keinen Zwang an. Eine gewisse spontane „Assimilation“ kann jedoch beobachtet werden, weil die Parteien oft bereits beim Abschluss eines Rechtsgeschäfts die Chancen der Durchsetzbarkeit erwogen.

Die Fragen stellte Lennart Pieper.

Über die Autorin

Prof. Dr. Éva Jakab ist Professorin für Zivilrecht und Römisches Recht an der Károli Gáspár Universität der Reformierten Kirche in Ungarn. Als international anerkannte Expertin für römisches Recht hat sie zu einer Vielzahl von Themen der antiken Rechtsgeschichte publiziert. Von Oktober 2023 bis März 2024 war sie Fellow am Käte Hamburger Kolleg.