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Was tun, wenn die Stimme wegbleibt?

Akutes phoniatrisches Intensivverfahren bringt Patienten ihre Stimme zurück
Prof. Dr. Katrin Neumann (Mitte) und Dr. Philipp Mathmann üben mit einer Patientin verschiedene Sprechübungen, etwa sinnfreie Vokal- oder Konsonanten-Vokal-Verbindungen.
© Uni MS - Peter Leßmann

Von heute auf morgen ist die Stimme weg, maximal ein Stottern, Flüstern oder Krächzen bleibt zurück – für die meisten Menschen eine schlimme Vorstellung. Der Besuch beim Hals-Nasen-Ohrenarzt bringt meistens keine Besserung, Medikamente schlagen nicht an, und Operationen werden mitunter durchgeführt, obwohl keine organischen Auffälligkeiten vorliegen. Auch stundenlange logopädische Stimmtherapien erzielen meist keinen Erfolg. Frustration und Angst bleiben bei den Betroffenen zurück. Sie flüchten zum Teil in die soziale Isolation, kündigen ihren Job, brechen ihr Studium ab und meiden die Kommunikation mit anderen – teilweise über Monate oder Jahre.

Das plötzliche Wegbleiben der Stimme oder eine extreme Veränderung der Sprechweise ohne erkennbare Ursache nennen die Fachleute psychogene Stimm- und/oder Sprechstörung. „Man kann es als einen Schutz-, Flucht- oder Abwehrmechanismus des Körpers verstehen – eine grundsätzlich sinnvolle, aber unbewusste Reaktion auf einen gewissen Auslöser, zum Beispiel eine meist vorübergehende Stress-, Konflikt- oder Angstsituation“, erklärt Prof. Dr. Katrin Neumann, Direktorin der Klinik für Phoniatrie und Pädaudiologie am Universitätsklinikum Münster (UKM). „Nur bei einer Minderheit der Betroffenen liegen längerdauernde psychische Belastungen zugrunde, die eine Abklärung und Psychotherapie benötigen. Manche Personen reagieren mit Magenkrämpfen oder Herzrasen, andere verlieren ihre Stimme.“ Die Ärztin und Wissenschaftlerin der Universität Münster beschäftigt sich schon lange mit dieser Symptomatik. Mit ihrem Team hat sie ein bereits bekanntes, aber in Vergessenheit geratenes Verfahren aufgegriffen und weiterentwickelt, dass es auf den ersten Blick wie eine Wunderheilung daherkommt: die sogenannte intensive phoniatrische Akutintervention.

Um die Art des Eingriffs zu starten, müssen die Ärztinnen und Ärzte voll und ganz von diesem Verfahren überzeugt sein und diese Überzeugung möglichst perfekt ihren Patienten vermitteln. In anderen Worten: Sie brauchen eine ordentliche Portion Suggestivkraft. Zudem sollte die Diagnose den Patienten im Vorfeld nicht benannt werden, und Hinweise auf akute oder chronische psychische Belastungen müssen sorgfältig eruiert werden, um sie im Nachgang mit den Patienten zu besprechen und gegebenenfalls weiterzuverfolgen. Das eigentliche Vorgehen soll die Patienten gezielt ablenken: Unter Lokalanästhesie des Kehlkopfes räuspern sie sich, husten, summen, sprechen verschiedene sinnfreie Vokal- oder Konsonanten-Vokal-Verbindungen oder sagen ein Gedicht auf. Zudem lassen die Ärzte ihre Patienten aus der Puste kommen, zum Beispiel durch Hüpfen. „Aus einer Verfremdungs-, Überraschungs- oder Auspower-Situation heraus kann die Stimme wiederhergestellt werden – wir holen sie Stück für Stück zurück“, erklärt Katrin Neumann. Bei der Intervention werden die Patienten allerdings nicht mit Samthandschuhen angefasst. „Das Motto ‚die Stimme kommt schon wieder, wenn sie möchte‘, zieht meist nicht. Im Gegenteil: Wir treten gegenüber den Patienten sehr überzeugt und durchaus autoritär auf – eine gewisse ‚Überrumpelung‘ gehört dazu“, ergänzt Dr. Philipp Mathmann, leitender Oberarzt und stellvertretender Klinikdirektor.

Die Behandlung kann wenige Minuten bis einige Stunden in Anspruch nehmen und ist sowohl für den Arzt als auch für den Patienten intensiv und bisweilen erschöpfend. Was auf den ersten Blick einfach klingt, erfordert viel Erfahrung und Disziplin auf Seiten der Experten. Auf Rückfälle in alte Muster während einer Sitzung müssen sie sofort reagieren und alternative Übungen durchführen. Nur dadurch kann das pathologische Phonationsmuster – also die Störung – konsequent durchbrochen werden. Und das mit Erfolg: Nicht selten dauert es nur wenige Minuten, bis eine Besserung hörbar wird – ein bis zwei Stunden später ist die Störung meist komplett behoben, und der Patient spricht wieder normal. „Es kann durchaus passieren, dass der Patient während einer Intervention eine andere Störungsphase, etwa eine Sprechstörung durchläuft. Manches beheben wir in einer Sitzung, andere Störungen benötigen eine weitere Intervention“, beschreibt Philipp Mathmann.

Der Erfolg spricht für sich: Von bisher 80 behandelten Patienten ist bei vier Personen keine oder nur eine vorübergehende Besserung eingetreten. Es überrascht daher, dass dieses Verfahren – soweit bekannt – nirgendwo sonst angewandt wird und dass es dazu keine Forschung gibt. Das will das Team um Katrin Neumann ändern. „Wir stehen in den Startlöchern und möchten die bisherigen Patientendaten systematisch erforschen und evidenzbasierte Studien publizieren. Die Wissenslücke ist riesig, sowohl auf der Forschungsebene als auch in der klinischen Praxis.“ Kommendes Jahr reisen sie und Philipp Mathmann nach Irland und sprechen auf einer internationalen Fachtagung erstmals über die intensive Akutintervention. Der Austausch sei wichtig, um das Verfahren bekannter zu machen und um Personen mit psychogenen Stimm- und Sprechstörungen noch gezielter zu helfen, sind sich die beiden Experten sicher.

Beispiel einer Patientin – vor, während und nach der Akutintervention (Audioaufnahmen: Philipp Mathmann, Münster. Bearbeitungen: Thomas Brauer, Mainz).

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 13. Dezember 2023.