Vor 130 Jahren wurde das Institutum Judaicum gegründet
Mittendrin, aber unscheinbar – klein, aber renommiert: Das Institutum Judaicum Delitzschianum ragt aus der großen Menge der Institute der Universität Münster in mehrfacher Hinsicht heraus. Auf der vierspurigen Straße vor dem Schloss und dem großen Hörsaalgebäude rauscht der Verkehr vorbei, nach nur wenigen Schritten in die Wilmergasse hinein kommt man aber bereits zur Ruhe und entdeckt am Haus Nummer 1 das Institutsschild. Die Zahl der Räume ist überschaubar, und doch hat das "IJD" in der Fachwelt und weit darüber hinaus einen klingenden Namen. "Die Tatsache, dass wir uns neben der Forschung über das antike Judentum auch den jüdisch-christlichen Beziehungen bis in die Gegenwart widmen, macht uns zu einem deutschlandweit einzigartigen Institut", unterstreicht Direktor Prof. Lutz Doering, der seit 2014 an der WWU lehrt und forscht.
Die Anfänge des Instituts liegen bereits 130 Jahre zurück. Der evangelisch-lutherische Theologe Franz Delitzsch gründete 1886 in Leipzig ein Institutum Judaicum. Er verfolgte damit zwei wesentliche Ziele: die Förderung der Verständigung von Juden und Christen und die Unterstützung der damals verbreiteten weltweiten Judenmission. 1935 schlossen die Nationalsozialisten die Einrichtung und ließen die seinerzeit rund 3600 Bände der Bibliothek ins Reichssicherheitshauptamt nach Berlin transportieren.
Drei Jahre nach Kriegsende gründete der damals nach Münster berufene Neutestamentler Karl Heinrich Rengstorf das IJD wieder – zunächst als freies Institut, später wurde es Teil der evangelisch-theologischen Fakultät. Die historisch-kritische Arbeit mit jüdischen Partnern lebte wieder auf, der Missionsgedanke rückte dagegen in den Hintergrund. Lutz Doerings Vorgänger, Prof. Folker Siegert, legte großen Wert auf die Abgrenzung des Instituts von der Judenmission. "Heute beantwortet das IJD die immer noch kommenden Anfragen nach Zusammenarbeit mit solchen – heute fast durchweg englischsprachigen – Organisationen, die Judenmission betreiben, negativ", schrieb er im Jahr 2012. "Wir sagen: Sorry, der Geschichtsplan, an dem sich noch Franz Delitzsch orientierte, war für das erste Jahrhundert gedacht, nicht aber für das dritte Jahrtausend. Unser Verständnis der Bibel ist an der tatsächlichen Geschichte orientiert, der einstigen wie der neueren."
Auch für Lutz Doering, einem Experten für die Qumrantexte und die jüdische Religion in hellenistisch-römischer Zeit, steht das antike Judentum aus der Zeit von etwa 300 vor bis 300 nach Christus, einschließlich des frühen rabbinischen Judentums, im Mittelpunkt von Forschung und Lehre. Die Studierenden der evangelischen und der katholischen Theologie, der Religionswissenschaft sowie weiterer Fächer haben die Wahl zwischen zahlreichen Lehrveranstaltungen – darüber hinaus können sie Sprachkurse im modernen Hebräisch (Ivrit) belegen und an Exkursionen, etwa zu Synagogen, teilnehmen. Die Sprachkurse stehen allen WWUStudierenden offen. Schließlich unterstützt das IJD die beiden Programme "Theologisches Studienjahr Jerusalem" und "Studium in Israel", sodass auch münstersche Studierende regelmäßig die Gelegenheit haben, in Israel zu studieren. Überhaupt wird Internationalität am Institut großgeschrieben: So gewann Lutz Doering für die Mitarbeit an seinem Projekt zum antiken Judentum Postdoktoranden aus England und Kanada.
Wer eine weitere Besonderheit des IJD kennenlernen möchte, sollte die Bibliothek besuchen, die nach Überzeugung von Lutz Doering "in dieser Breite und Spezialisierung eine Besonderheit darstellt". Mehr als 22.000 Bände zu allen Bereichen der jüdischen Geschichte und Religion stehen zur Verfügung, darunter Spezialbereiche wie etwa zur Tosefta, einem wohl im dritte Jahrhundert nach Christus abgeschlossenen Sammelwerk mündlicher Überlieferungen und Traditionen des rabbinischen Judentums. Obendrein können die Studierenden und Gäste die besondere Atmosphäre der Bibliothek genießen: Einer der beiden Räume ist ein ehemaliger Kapellenraum mit einer beeindruckenden Gewölbedecke.
NORBERT ROBERS
Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 5, 20. Juli 2016.