"Wir müssen diesen Teil der Geschichte Deutschlands entmythologisieren"
Die deutsche Wiedervereinigung jährt sich am 3. Oktober zum 25. Mal. Historiker nehmen dieses Datum zum Anlass, um die Entwicklung Deutschlands im vergangenen Vierteljahrhundert aus historischer Perspektive zu durchleuchten. Die Experten werden bei den "Nassauer Gesprächen" – einem Symposium Anfang November in Siggen (Ostholstein), das in Kooperation mit der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft und mit Unterstützung der Alfred-Toepfer-Stiftung durchgeführt wird – den Anstoß zu einer "Historisierung der Vereinigungsgesellschaft" geben. Was damit gemeint ist und wie Historiker den Einigungsprozess bewerten, dazu äußert sich der Leiter des Symposiums, Prof. Dr. Thomas Großbölting vom Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, im Interview mit Juliane Albrecht.
Welche Bilanz ziehen Sie 25 Jahre nach der Wiedervereinigung?
Im Vergleich zu vielen anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks ist die deutsch-deutsche Wiedervereinigung ein echtes Erfolgsprojekt. In Deutschland gab es beste Voraussetzungen für die Etablierung einer funktionierenden und auch wirtschaftlich erfolgreichen Demokratie. Dagegen haben andere ehemalige Ostblockstaaten noch heute mit der Transformation und den Folgen der Diktatur zu ringen. Allerdings hatte die rasche Vereinigung auch ihren Preis. Getrieben von der außenpolitischen Lage und der Befürchtung, dass sich das Zeitfenster in der Sowjetunion schnell wieder schließt, wurde mit dem staatsrechtlichen Beitritt keine Wiedervereinigung im eigentlichen Sinne betrieben. Stattdessen schloss sich der kleinere Partner dem großen Bruder an. Auch die rasche wirtschaftliche Vereinigung erschien zeitgenössisch ohne Alternative, führte aber im Rückblick auch dazu, dass wirtschaftliche Potenziale in Ostdeutschland zerschlagen wurden.
Also keine Wiedervereinigung "auf Augenhöhe". Welche Auswirkungen hatte das?
Die ab etwa 1995 zu beobachtende "Ostalgie-Welle" ist eine Folge dieser Asymmetrie. Außerdem kam es durch die wenig später erfolgte Einführung der Hartz-Gesetze und die entsprechenden Veränderungen im Sozialbereich bei vielen Ostdeutschen zu einer Verklärung der "sozialen Errungenschaften" der DDR.
Experten betrachten diese Entwicklungen heute mit zeitlicher Distanz und sprechen von der nötigen "Historisierung der Vereinigungsgesellschaft". Was ist damit gemeint – worauf kommt es aus Historiker-Perspektive an?
Auf zwei Dinge. Erstens: Wir sollten nicht ständig die Unterschiede zwischen Ost und West beschreien. In spätestens eineinhalb Generationen wird es zwar immer noch Unterschiede zwischen alter Bundesrepublik und "neuen Ländern" geben. Diese werden dann aber nicht mehr auf die politische Teilung zurückgeführt werden. Zweitens: Aus geschichtspolitischer Sicht ist es wichtig, den Mythos eines reibungslosen Einigungsprozesses zu hinterfragen. Die Wiedervereinigung ist zwar eine Erfolgsgeschichte, aber es gab beispielsweise in der Bevölkerung auch wirtschaftliche Verlierer. Wir sollten den Vereinigungsprozess selbstkritisch betrachten und soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten und Schwierigkeiten offen benennen. Wir müssen diesen Teil der Geschichte Deutschlands historisch fundiert entmythologisieren.