„Man muss sich auch nach dem Wahlkampf noch in die Augen schauen können“
Die Bundestagswahl 2025 steht an. Aufgrund vorgezogener Neuwahlen geben die Wählerinnen und Wähler in diesem Jahr schon am 23. Februar ihre Stimme ab. In einer Serie beleuchtet die Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit der Universität Münster mit hiesigen Expertinnen und Experten verschiedene Aspekte der Wahl. Im ersten Teil spricht der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Kersting mit André Bednarz über die Charakteristika des anstehenden nationalen Urnengangs.
Die Bundestagswahl 2025 findet deutlich früher statt als ursprünglich geplant, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz im Dezember die Vertrauensfrage im Bundestag gestellt und wie erwartet verloren hatte. Welche Konsequenzen hat die Verschiebung und der Zeitpunkt für die Organisation, die Parteien und die Wahlberechtigten?
Wegen des vorgezogenen Termins stehen deutlich weniger Parteien als üblich zur Wahl. Einige haben es so kurzfristig nicht geschafft, die nötige Unterstützung zu organisieren, oder sie haben von vornherein das Handtuch geworfen. Zum anderen führt die kurze Spanne zwischen Vertrauensfrage und Wahltermin dazu, dass der Wahlkampf deutlich kürzer ausfällt. Normalerweise startet er mit dem Versand der Briefwahlunterlagen, also rund sechs Wochen vor der Wahl. In diesem Jahr führen die Parteien nur zwei bis drei Wochen Wahlkampf, da zuvor kurzfristig die Parteitage abgehalten und die Wahlprogramme verabschiedet werden mussten.
Was bedeutet der in doppelter Hinsicht frühe Termin für die Wählerinnen und Wähler?
Die kalte Jahreszeit ist herausfordernd. Dadurch fehlen den Parteien bestimmte Instrumente, um die Wahlberechtigten zu mobilisieren: Parteien und potenzielle Wähler kommen seltener zusammen, da Wahlkampfveranstaltungen aufgrund der Witterung spärlicher besucht werden oder Großveranstaltungen beispielsweise in Innenräumen statt auf Marktplätzen stattfinden. Auch der übrige Straßenwahlkampf ist nicht so umfangreich. Weniger direkter Austausch zwischen Parteien und Wählern wie auch das späte Bereitstellen externer Wahlhilfen und Informationsangebote sorgen dafür, dass sich die Wähler nicht so intensiv informieren können. Neben weiteren Faktoren könnte all dies dazu führen, dass die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den Bundestagswahlen im Spätsommer sinken könnte.
Die Wählerinnen und Wähler können auf dem Wahlzettel auch in diesem Jahr zwei Kreuze machen: eines für die Erst-, eines für die Zweitstimme. Eine entscheidende Änderung gibt es dennoch …
Ganz genau, die im vergangenen Jahr beschlossene Wahlrechtsreform wird erstmals in Kraft treten. Das bedeutet, dass es keine Überhang- und Ausgleichsmandate geben wird, also weniger Abgeordnete als zuletzt in den Bundestag einziehen werden. Diese drastische Regelung wirkt sich auf die Direktkandidaten aus, die per Erststimme gewählt werden. Denn die Zweitstimme, mit der die Wähler eine Partei wählen, wird deutlich aufgewertet: Der Gewinn der Erststimmen garantiert einem Kandidaten nicht mehr automatisch den Einzug ins Parlament per Direktmandat. Die Erststimmengewinner einer Partei werden sich miteinander messen müssen, sodass nur diejenigen per Direktmandat in den Bundestag einziehen, die im Vergleich die besten Ergebnisse erzielt haben. Für das eher ländliche Münsterland ist das gut, da es dort noch immer Hochburgen großer Parteien gibt und deren Kandidaten mit einem starken Ergebnis rechnen können. In Münster selbst sieht das anders aus: Der Wettbewerb ist größer, die Stimmen verteilen sich auf mehr Kandidaten, weshalb es sein kann, dass der Sieger des Wahlkreises kein Mandat bekommen könnte.
Verliert taktisches Wählen an Bedeutung, wenn die Zweitstimme aufgewertet wird?
So ist es. Den großen Parteien kommt es sowohl auf die Erst- als auch auf die Zweitstimme an. Leihstimmen, wie sie es in vorherigen Wahlkämpfen gegeben hat – also dass beispielsweise ein CDU-Wähler im Sinne der Koalitionsbildung die Zweitstimme der FDP gegeben hat –, werden an Bedeutung verlieren. Zur Einordnung: 2021 gab ein Drittel der Wähler seine Zweitstimme einer Partei, der der von ihnen gewählte Direktkandidat nicht angehörte. Dieses Vorgehen wird zukünftig durch die Reform nicht mehr honoriert werden.
Kommen wir zu den Parteien und ihren Inhalten. Wie hat sich die Parteienlandschaft verändert?
Unser Wahl-Kompass zeigt die Verteilung der Parteien in einem Koordinatensystem. Dabei ist zu erkennen, dass die Parteien in dieser Landschaft so weit auseinanderliegen wie selten zuvor. Das ist zum Teil ein Reflex auf die neuen rechts- und linkpopulistischen Parteien. Die AfD hat als zentrales Thema Migration. Mit dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) existiert eine linkspopulistische Abspaltung, die ebenfalls die Migration stark reduzieren will. Anders als bei der vergangenen Bundestagswahl, bei der es vor allem um moderate Positionen der politischen Mitte ging, nähern sich die Parteien stärker den Extremen an. Schaut man auf die aktuellen Umfragen, könnten so viele Parteien wie noch nie in den Bundestag einziehen: Neben der CDU und CSU, der SPD, den Grünen und der AfD könnten die FDP, das angesprochene BSW und die Linke die Fünf-Prozent-Hürde überwinden. Die Linke und die Freien Wähler aus Bayern versuchen zudem, über die sogenannte Grundmandatsklausel in das Parlament einzuziehen. Die Klausel besagt, dass eine Partei auch dann im Bundestag vertreten ist, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt, auch wenn sie insgesamt weniger als fünf Prozent der Stimmen erhält.
Sie haben sich für Ihren Wahl-Kompass in kürzester Zeit durch die Wahlprogramme gearbeitet. Was haben Sie dabei festgestellt?
Wir mussten uns unter anderem intensiv in die Wahlprogramme und Leitanträge einarbeiten. Klima- und Umweltschutz stehen nicht mehr so im Fokus wie 2021. Das Thema Migration ist dafür in den Vordergrund gerückt worden – und das wird wohl auch in den kommenden zwei Wochen so bleiben, was vor allem den Populisten nutzt. Es ist trotz mehrerer Versuche nicht gelungen, dieses Thema vor der Wahl im Parlament mittels Kompromiss abzuräumen.
Welche Inhalte sind neben Migration noch wichtig?
Sicherheit und Absicherung sind wichtige Themen, sowohl national als auch individuell: Zukunftsängste werden deutlich, die Sorge, dass sich die Wirtschaftslage nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert. Mit der Migration wird außerdem häufig die innere Sicherheit verknüpft.
Wie bewerten Sie das aktuelle politische Klima kurz vor dem Urnengang?
Ich habe das Gefühl, dass viel im Gange ist und dass sich noch größere Veränderungen ergeben können. Es ist äußert schwierig, das Ergebnis zu prognostizieren. Ich glaube, dass es nicht so eindeutig ausfallen wird, wie die Vorhersagen noch vor Kurzem andeuteten. Fest steht: Es gibt eine starke Polarisierung. Diese wird bei den Koalitionsverhandlungen vermutlich nicht ohne Folgen bleiben. Kann man nach einem so heftigen und hitzigen Wahlkampf einfach zur Tagesordnung übergehen und eine Regierung auf die Beine stellen? Das sind wichtige Fragen, da sich die Politikerinnen und Politiker auch nach dem Wahlkampf noch in die Augen schauen können müssen.