![Ein in Madagaskar lebender Mausmaki trägt einen Sender, der es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglicht, per Telemetrie Informationen über das Bewegungsverhalten des Tieres zu sammeln.<address>© Copyright: Melanie Dammhahn</address>](http://www.uni-muenster.de/news/data/img/2025/01/14517-28P9fb77-webL.jpg)
„Die Debatte über Tierversuche ist alles andere als differenziert“
Die Professorinnen Helene Richter und Melanie Dammhahn von der Universität Münster mahnen in einer aktuellen Veröffentlichung gemeinsam mit ihren Kolleginnen Sylvia Kaiser (Uni Münster) und Barbara Caspers (Uni Bielefeld) einen differenzierteren Blick auf Tierversuche an. Im Interview mit Christina Hoppenbrock schildern die Tierschutzexpertin Prof. Dr. Helene Richter und Verhaltensökologin Prof. Dr. Melanie Dammhahn, vor welchen Problemen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stehen, weshalb Tierversuche nötig sind und wie eine differenziertere Beurteilung von Forschung mit und an Tieren aussehen könnte.
Richter: Die gesetzlichen Vorgaben werden strikter, sodass es für uns schwieriger wird, Tiere – genauer gesagt, Wirbeltiere – zu halten und Versuche mit ihnen zu machen. Wir spüren mehr Widerstand von den Behörden, es gibt mehr Rückfragen. Die Verfahren dauern länger. Das Tierschutzgesetz hat einen Interpretationsspielraum, der zunehmend streng ausgelegt wird. Mittlerweile müssen wir auch Kleinigkeiten, die wir anders machen wollen, in einem Änderungsantrag genehmigen lassen, zum Beispiel, wenn wir ein anderes Beschäftigungsmaterial für unsere Mäuse nehmen möchten.
Sie fordern eine differenzierte Sichtweise auf Tierversuche?
Richter: Richtig. Die öffentliche und politische Debatte zu Tierversuchen ist alles andere als differenziert. Der Begriff ‚Tierversuch‘ wird mit biomedizinischer Forschung assoziiert, mit Tierversuchen zum Wohl der Menschen. Aber es gibt auch Tierversuche zu anderen Zwecken. Wenn ich meine Bioethik-Vorlesung halte und die Studierenden frage, was sie mit Tierversuchen verbinden, höre ich nie, dass jemand einen verhaltensbiologischen Tierversuch schildert. Dabei wird ein durchaus großer Teil der Versuchstiere in der Verhaltensbiologie und der Tierwohlforschung eingesetzt. Unser Wissen über das emotionale Erleben und über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren beruht auf verhaltensbiologischen Tierversuchen. Ohne dieses Wissen könnten wir uns keine Gedanken über Tierschutz machen.
Melanie Dammhahn: Das gilt auch für die verhaltensökologische Forschung. Ohne sie wäre beispielsweise nichts darüber bekannt, welche Routen Zugvögel wählen oder wie Tiere auf den Klimawandel reagieren. Auch diese Forschung ist mit Tierversuchen verbunden, zum Beispiel, indem man die Tiere mit Sendern oder Datenloggern versieht. Die Forschungsergebnisse sind Grundlagen für einen evidenzbasierten Arten- und Naturschutz.
Warum gibt es in der Verhaltensbiologie überhaupt Tierversuche im Labor? Man kann Tiere doch im Freien beobachten.
Dammhahn: Das Schöne an den Laborversuchen ist, dass wir maximal kontrollierte Bedingungen schaffen und uns einzelne Parameter detailliert anschauen und variieren können. Das heißt, Laborversuche haben immer eine hohe Relevanz bezüglich kausaler Zusammenhänge. Freilandversuche dagegen haben eine viel stärkere ökologische Relevanz, weil man im natürlichen Umfeld der Tiere Fitnesskonsequenzen quantifizieren kann, also Auswirkungen auf Überleben und Reproduktionserfolg. In der Verhaltensforschung kombiniert man deswegen Labor- und Freilandversuche.
Richter: Wenn wir über das Wohlergehen von Tieren oder über Emotionsforschung sprechen – beides aktuelle Themen in der Tierschutzforschung –, dann können wir das nur mit bestimmten Testverfahren im Labor machen.
Dammhahn: Meine Gruppe erforscht Kleinsäuger, zum Beispiel Waldmäuse, die wir in Lebendfallen fangen. In dem Moment, in dem jemand das Tier aus der Falle herausnimmt, fängt der Tierversuch an. Dabei kann es darum gehen, das Körpergewicht zu bestimmen oder eine Haarprobe zu nehmen oder einen Mikrochip unter die Haut zu setzen, wie er auch bei Katzen oder Hunden eingesetzt wird.
Richter: Wenn Sie Ihre Katze per Chip markieren lassen, ist das kein Tierversuch. Die gleiche Prozedur im wissenschaftlichen Kontext dagegen gilt als Tierversuch. Das deutsche Tierschutzgesetz definiert Tierversuche als Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken, die mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die Tiere verbunden sein können. Das bietet einen gewissen Interpretationsspielraum, und gerade diese ‚Kann‘-Formulierung wurde früher anders ausgelegt als heute. Heute sagt man: Wenn sich nicht ausschließen lässt, dass ein Tier bei einem Verhaltenstest einen Moment der Angst hat, dann ist es ein Tierversuch. Aus meiner Sicht müsste die Frage sein, ob ein Moment der Angst das Wohlergehen des Tieres so sehr einschränkt, dass es relevant für den Tierschutz ist.
Kommen wir zurück zur öffentlichen Debatte. Was stört Sie daran?
Richter: Sehr stark stört mich die ‚Replacement-Debatte‘, bei der ein Ersatz von Tierversuchen gefordert wird. Das ist eine unreflektierte Alles-oder-nichts-Diskussion, weil es viele Tierversuche gibt, die nicht ersetzt werden können, schon allein gesetzlich nicht. Gerade auch in der Verhaltensbiologie ist ein Ersatz undenkbar, weil die Disziplin von der Arbeit mit Tieren abhängt.
Dammhahn: Auch die allgemeine Forderung, die Zahl der eingesetzten Tiere immer maximal zu reduzieren, ist problematisch. Die Folge spüren wir: Wir müssen Studien mit kleineren Stichprobengrößen durchführen, als wir aufgrund unserer statistischen Expertise für richtig halten. Das führt mittlerweile bei vielen Arbeiten dazu, dass die wissenschaftliche Aussagekraft geschwächt wird.
Wie ließe sich die Situation verbessern?
Dammhahn: Wir wünschen uns ein differenziertes Genehmigungsverfahren, eine ethische Abwägung, die genauer in den Blick nimmt, ob Versuche tatsächlich mit Leiden, Schäden oder Schmerzen verbunden sind. Uns geht es nicht darum, die Gesetze zu ändern, sondern darum, Genehmigungsverfahren nicht in die Länge zu ziehen.
Richter: Und zwar unabhängig von der Disziplin. Auch in der Bio- oder Tiermedizin müsste ein gering belastender Versuch anders bewertet werden als einer, der schwer belastend für das Tier ist.
Dammhahn: Die Verfahren ließen sich zudem kürzen, wenn sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen würden, um Fragen direkt zu klären. Das ist leider bei Tierversuchsanträgen derzeit nicht vorgesehen; bislang gibt es ein langwieriges schriftliches Hin und Her.
Und wie sieht es mit den Bürgerinnen und Bürgern aus?
Richter: Es liegt an uns, stärker hervorzuheben, warum unsere Forschung wichtig ist. Ich spreche jetzt für die Verhaltensbiologie: Wir müssen die Relevanz dieser Versuche deutlich machen und gleichzeitig transparent darlegen, was mit den Tieren passiert. Was für eine Belastung ist damit verbunden? Welche vergleichbaren Belastungen kennt man bei Haustieren? Auf diese Weise würde das Thema greifbarer.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 1, 29. Januar 2025.
Tierversuche an der Uni Münster:
An der Universität Münster werden Tierversuche durchgeführt, unter anderem mit Mäusen, Ratten, Meerschweinchen und Zebrafischen. Die Universität setzt sich gemäß ihrem „Leitbild zum ethischen Umgang mit Tieren in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre“, das von der Koordinierungskommission für tierexperimentelle Forschung ausgearbeitet wurde, für eine sachliche Diskussion und eine transparente Information der Öffentlichkeit über die Nutzung von Tieren in der wissenschaftlichen Forschung und Lehre ein. Die Koordinierungskommission für tierexperimentelle Forschung wurde 2013 vom Rektorat der Universität Münster einberufen. Ihr gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Naturwissenschaften, Medizin und Ethik sowie Tierschutzbeauftragte und Studierendenvertreterinnen und -vertreter an.
Literaturhinweis:
S. Helene Richter, Barbara A. Caspers, Melanie Dammhahn, Sylvia Kaiser (2024): Animal research revisited – the case of behavioural studies. TREE; DOI: 10.1016/j.tree.2024.11.014. Die Publikation ist im Rahmen des Transregio-Sonderforschungsbereichs „Nischenwahl, Nischenkonformität, Nischenkonstruktion“ (NC3) entstanden.
Links zu dieser Meldung
- Originalveröffentlichung in „TREE“
- Tierversuche und Tierhaltung an der Universität Münster
- Beitrag der Universität Bielefeld: „Tierversuche differenziert betrachten“ (Interview mit Prof. Dr. Barbara Caspers)
- SFB-TRR „A Novel Synthesis of Individualisation across Behaviour, Ecology and Evolution“ (NC³)
- Die Januar-Ausgabe der Unizeitung als PDF
- Alle Ausgaben der Unizeitung auf einen Blick