Verborgenes Wissen aus religiösen Archiven
Drei Millionen Exemplare der Heiligen Schrift hat die Britische Bibelgesellschaft allein 1903 in aller Welt verteilt. Darunter befanden sich viele Übersetzungen, auch in die Sprachen der damaligen Kolonien. Wer brachte den Missionaren die Vokabeln und die Grammatik dafür bei? Zeitgenössische Kataloge erwähnten die oftmals maßgeblich beteiligten Muttersprachler meist nicht einmal. „Dabei wäre ohne sie niemals eine Übersetzung zustande gekommen“, ist Dr. Felicity Jensz überzeugt. „Die Missionare haben die für sie fremde Sprache und Kultur nicht vollständig begriffen. Gerade Wörter aus einem spirituellen Kontext waren ohne ein tiefes Verständnis des jeweils anderen Glaubens schwer zu übersetzen.“
Die Historikerin leitet das Forschungsprojekt „Global Bible (GloBil)“, das den vielschichtigen Übersetzungsprozess anhand teilweise weit verstreuter Archivfunde sichtbar macht. „Zu den Missionsgesellschaften wurde bereits viel geforscht, zu den Bibelgesellschaften jedoch noch nicht“, erläutert die Wissenschaftlerin. „Es geht uns außerdem darum, den Einfluss imperialistischer Bestrebungen auf die Bibelübersetzungen zu zeigen.“ Das Kooperationsprojekt wird von der deutsch-britischen Förderinitiative in den Geisteswissenschaften der „UK Research and Innovation“ (UKRI) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Hauptantragstellerinnen sind die Historikerinnen Prof. Dr. Hilary Carey von der britischen Universität Bristol und Felicity Jensz.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Teile der Bibel in etwa 1.000 Sprachen übersetzt worden, darunter viele, die zuvor keine Schriftlichkeit kannten. Das heutige Wissen über die Sprachen der ,Global Majority‘ beruhe auf der beschwerlichen, oftmals jahrzehntelangen Arbeit indigener Übersetzer und Missionare aus der Kolonialzeit, unterstreicht Felicity Jensz. „Unsere Quellen aus Archiven deutscher und britischer Bibelgesellschaften zeigen darüber hinaus, dass Frauen ebenfalls zu den Bibelübersetzungen beitrugen, aber seltener offiziell erwähnt wurden.“
Projektmitarbeiter Dr. Michael Wandusim beschäftigt sich mit westafrikanischen Bibelübersetzungen und den beteiligten indigenen Übersetzern. Darüber hinaus nimmt er Aspekte der Bibelübersetzungen in den Blick, die sich auf den Glauben der Menschen auswirkten. „Beispielsweise gab es zwar in manchen Sprachen bereits einen Begriff für einen Schöpfergott oder andere Gottheiten. Missionsbibelübersetzer versuchten aber, Begriffe zu erfinden, die in der religiösen Weltsicht der jeweiligen Kultur fremd waren“, erläutert der Theologe.
Das Forschungsteam untersucht Bibeln aus dem 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert aus Westafrika, der Arktis und Ozeanien. „Nicht nur die Übersetzung, sondern auch die Verteilung war verflochten und komplex, mit einer erheblichen wirtschaftlichen Dimension“, unterstreicht Felicity Jensz. In Grönland habe man zum Beispiel übersetzte Bibeln gegen den Tran vom Walfisch getauscht, auf einer Insel im Pazifik erhielten die Missionare im Gegenzug Pfeilwurzelmehl. Druckereien in Europa waren erpicht auf die Großaufträge, Spenden wurden gesammelt, Rohstoffe und Bücher verschifft.
Die Forschungsergebnisse fließen in eine digitale Landkarte und eine frei zugängliche Datenbank ein. Außerdem stellt das Team seine Arbeit ab Oktober 2025 im Bibelmuseum der Universität in einer Ausstellung vor, einem Projektpartner von „Global Bible“.
Autorin: Brigitte Heeke
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024.