Stammbaumrecherche am anderen Ende der Welt
Sie habe nicht damit gerechnet, sagt Dong-Nan Zhu, dass sie nach ihrer Anfrage im Universitätsarchiv Münster so viele Dokumente in den Händen hält. Sichtlich erfreut und auch ein wenig aufgeregt betrachtet sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter die 22 Seiten, die Archivleiterin Dr. Sabine Happ ihr herausgesucht hatte. Sie sind für die 50-Jährige von emotionaler und historischer Bedeutung. Die blaue Personalkarteikarte, auf der in schwarzer Frakturschrift „Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ steht, gehörte ihrer Großmutter Fu-Ying Liu, die von 1937 bis 1939 am Institut für Pharmazie und chemische Technologie in Münster promovierte. Rund 80 Jahre später reist ihre Enkelin mit ihrer Familie über 9.000 Kilometer nach Münster und bekommt im Uniarchiv einen Einblick in die Urkunden, Zeugnisse und weiteren Dokumente ihrer Großmutter. „Eine erfreuliche und zugleich außergewöhnliche Anfrage“, findet Sabine Happ.
Stammbaumrecherchen seien für die Beschäftigten des Universitätsarchivs zwar nicht ungewöhnlich, erklärt die Archivarin. „An eine Anfrage aus China kann ich mich jedoch nicht erinnern.“ Zumal auch der wissenschaftliche Werdegang der Großmutter ein besonderer war. Im Juni 1936 beendete Fu-Ying Liu ihr Bachelorstudium in Chemie an der Zhejiang-Universität in Hangzhou. Nach einer Zwischenstation an der Technischen Universität Berlin, wo sie innerhalb eines Jahres nahezu perfektes Deutsch lernte, wechselte die damals 24-Jährige zum Wintersemester 1937/38 nach Münster, um ihre Doktorarbeit zu schreiben. „Vor dem Hintergrund des damals propagierten Frauenbildes sowie der geringen Aufstiegschancen ausländischer Wissenschaftlerinnen während der NS-Zeit waren derartige Laufbahnen eine Rarität“, betont Sabine Happ. Auch unter ausländischen Studierenden waren deutsche Universitäten seinerzeit kein beliebtes Ziel. Daten aus dem Universitätsarchiv zeigen, dass der Ausländeranteil unter den Studierenden Anfang der 1930er-Jahre nicht einmal bei einem halben Prozent lag.
An der Entscheidung, dennoch nach Deutschland zu ziehen und dort zu promovieren, habe Fu-Ying Lius Bruder einen großen Anteil gehabt, erzählt ihre Enkelin, während sie durch die Abschlussdokumente ihrer Großmutter blättert. „Er setzte sich schon damals für gleiche Bildungschancen für Frauen und Männer ein. Ohne ihn hätte sie vielleicht nie die Möglichkeit gehabt, an einer Universität zu studieren“, betont Dong-Nan Zhu. Fu-Ying Liu und ihre Geschwister waren früh auf sich allein gestellt: Ihre Mutter starb, als sie vier Jahre alt war.
Ihre wissenschaftliche Anerkennung hatte die Chemikerin vor allem einem Forscher der Universität Münster zu verdanken: Prof. Dr. Hans Paul Kaufmann war seinerzeit ein anerkannter Chemiker am Institut für Pharmazie und chemische Technologie, der sich aufgrund seiner internationalen Vernetzung vor allem für die Promotion ausländischer Studierender einsetzte. „Vermutlich hat er einen großen Teil dazu beigetragen, dass das Institut Mitte der 1930er-Jahre bundesweit das drittgrößte seiner Art war und einen sehr guten Ruf hatte“, unterstreicht Sabine Happ. Den guten Ruf habe ihre Großmutter in vielen Erzählungen bestätigt, erzählt Dong-Nan Zhu. Ihre Dissertation zum Thema „Die Carbonylzahl und ihre Anwendung auf dem Fettgebiet“ schloss Fu-Ying Liu mit der Endnote „gut“ ab – auf Deutsch, wohlgemerkt. „Außergewöhnlich“, findet Sabine Happ, „wenn man bedenkt, dass sie erst drei Jahre zuvor angefangen hatte, die Sprache zu lernen.“
Auf die Frage, wie die Anfrage an das Uniarchiv verlaufen ist, reagiert Dong-Nan Zhu mit einem Lachen. Anfangs habe sie den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. „Es gibt an der Universität so viele Abteilungen, dass ich nicht wusste, wen ich fragen sollte“, erinnert sich die Chinesin, die momentan im US-Bundesstaat Kalifornien lebt. Also versuchte sie es beim Alumni-Club, der die Anfrage an den Fachbereich Chemie und Pharmazie weiterleitete. Auch dort konnte ihr niemand helfen, also landete die Anfrage im Universitätsarchiv bei Sabine Happ. Sie durchforstete die Studierendenkarte sowie die Datenbank zu Personal- und Prüfungsakten und wurde schnell fündig. In der Regel verschickt das Team eine digitale Kopie der Dokumente. Doch der interessante Lebenslauf von Fu-Ying Liu weckte Sabine Happs Interesse, und sie setzte sich mit Dong-Nan Zhu in Verbindung. Als die gebürtige Chinesin erfuhr, dass ein Besuch im Archiv möglich sei, nahm sie den langen Flug über den Atlantik auf sich, um den früheren Wohn- und Arbeitsort ihrer Großmutter kennenzulernen und gemeinsam mit Sabine Happ durch die Unterlagen zu blättern.
Und obwohl sie manchmal mit ihrer Großmutter über die Zeit in Münster sprach, bevor diese 2001 verstarb, lernte sie vieles über ihren Lebenslauf und ihr Dissertationsprojekt dazu. „Sie hatte ein aufregendes Leben – es hätte ein Film sein können“, sagt sie nach der Sichtung der Unterlagen. Bekanntlich gehört zu jedem Film auch eine Liebesgeschichte, denn der Lebensabschnitt in Münster war nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht ein voller Erfolg. Im August 1939, kurz vor ihrer Rückkehr nach China, heiratete Fu-Ying Liu hier ihren Ehemann – den Großvater von Dong-Nan Zhu.
Autor: Linus Peikenkamp
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024.