Von pädagogischer Herzensbildung zu nachhaltiger Erziehungswissenschaft
Das Institut für Erziehungswissenschaft an der Universität Münster gehört mit aktuell 26 Professuren und 23 Arbeitsgruppen bundesweit zu den größten Instituten der Disziplin. Es umfasst die Arbeitsbereiche Bildungstheorie und -forschung, Berufspädagogik, Erwachsenenbildung, Schulpädagogik und inklusive Bildung sowie Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit und blickt auf eine lange wie wechselvolle Geschichte zurück. 1824 wurde das Philologisch-pädagogische Seminar gegründet, seit 1970 gibt es das Institut für Erziehungswissenschaft. Hinter den Namen stehen jeweils andere Konzepte und Prägungen des Fachs. Die Erziehungswissenschaftler Dr. Andreas Oberdorf, Dr. Patrick Gollub und Prof. Dr. Tim Zumhof haben zum 200-jährigen Jubiläum den Band „Pädagogik und Erziehungswissenschaft an der Universität Münster“ herausgegeben. Wir stellen vier Beiträge daraus vor, die wichtige Meilensteine in der Geschichte der Einrichtung behandeln.
Herzensbildung als Gegenpol zu Preußen im 18. Jahrhundert
Die Pädagogik als eigenständige universitäre Disziplin entstand im ausgehenden 18. Jahrhundert und damit verhältnismäßig spät. Erst in den 1770er-Jahren etablierte sich die Pädagogik als selbstständige Wissenschaft an den Universitäten Halle und Königsberg sowie an der Akademie der Wissenschaften in Berlin – also in Preußen. Als Freiherr Franz von Fürstenberg, Premierminister des Hochstifts Münster, im Jahr 1773 die Universität Münster gründete, orientierte er sich allerdings nicht an diesen neuen preußischen Gegebenheiten. Sein Vorbild war die kurhannoversche Universität Göttingen, wo die Pädagogik eine Subdisziplin der empirischen Psychologie war. Psychologie als eigenständiges Fach schien Fürstenberg bedeutsamer zu sein als Pädagogik. Auch an den Gymnasien des Münsterlands sollten Schüler über die Bedeutung der Psychologie unterrichtet werden. Bildung verstand Fürstenberg vor allem als Herzensbildung – und ein solides Wissen über die Seele war in seinen Augen ein wichtiger Erziehungsauftrag. Erst als Münster ab dem Jahr 1815 preußisch wurde, fand die wissenschaftliche Pädagogik nach Fürstenbergs Tod auch hier ihren festen Ort.
Prof. Dr. Jürgen Overhoff
Marginalisiert und angepasst: Erziehungswissenschaft in der NS-Zeit
Während der NS-Diktatur war die Pädagogik an der Universität Münster nur schwach institutionell verankert. Das Studienangebot bestand lediglich im Abschluss zum Dr. phil. und der Philosophieprüfung für das höhere Lehramt. Die politische Orientierung der wenigen Lehrenden des Fachs war unmittelbar nach der Machtübertragung 1933 Deutschnational und Zentrum; danach wurden nur NSDAP-Mitglieder eingestellt. Die zentralen Instanzen der NS-Bewegung bevorzugten ab 1942 die reichsweite Einführung eines akademischen Psychologie-Studiengangs bei gleichzeitiger Verschiebung der pädagogischen Inhalte der Lehrausbildung aus der Universität in die Referendarzeit. Die NSDAP gestaltete in der Region andere erziehungswissenschaftliche Ausbildungswege radikal nach ihrem ideologischen Erziehungskonzept um oder zerstörte sie durch Terror. Dies geschah an der Universität Münster trotz massiver Eingriffe in die Personalpolitik nicht in gleichem Maße. 1944/45 brach der Studienbetrieb zusammen: Gebäude wurden zerstört, die Lehrkräfte waren im Dienst beim Militär oder in der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie in der Kinderlandverschickung.
Hans-Joachim von Olberg
Der Richtungs- und Methodenstreit nach 1968
Herwig Blankertz (1927 – 1983), frisch berufener Professor für Philosophie und Pädagogik, beantragte 1969 beim Ministerpräsidenten die Umbenennung des 1950 gegründeten Pädagogischen Seminars in „Institut für Erziehungswissenschaft“. Dies war die Konsequenz eines veränderten Selbstverständnisses der Disziplin an der Universität Münster, das sich angesichts forschungsmethodischer, wissenschaftstheoretischer und disziplinpolitischer Entwicklungen abzeichnete. Die Fachvertretungen waren sich einig: Pädagogische Forschung als Erziehungswissenschaft ist eine eigenständige akademische Disziplin. Worin ihr Forschungsgegenstand besteht, wie er zu untersuchen ist und in welchem Verhältnis diese Wissenschaft zur Politik und Gesellschaft steht, wurde keineswegs eindeutig geklärt. Die Forderung nach einer realistischen Erneuerung in der pädagogischen Forschung führte in Münster nicht unmittelbar zu einem Ausbau empirischer Forschungsaktivitäten, wohl aber zu einer gesellschaftstheoretischen und ideologiekritischen Wende. Theoretisch-analytische Forschung blieb damit auch am umbenannten Institut für Erziehungswissenschaft weiterhin vorherrschend.
Prof. Dr. Tim Zumhof
Inklusiv und digital: Strategische Entwicklung nach 2010
Neben der Lehrkräftebildung, die mit dem Start des Lehramts für sonderpädagogische Förderung zum Wintersemester 2023/24 nochmals ausgebaut wurde, liegt der Fokus in der Lehre auf den Fachstudiengängen und dem Unterrichtsfach Pädagogik. Disziplinpolitische Entwicklungen, gesellschafts- und bildungspolitische Trends sowie Verpflichtungen in der Lehre bedingen sich dabei gegenseitig. Die jeweiligen Arbeitsbereiche der Professuren zeigen die strategische Weiterentwicklung der Erziehungswissenschaft in Münster in den vergangenen 15 Jahren und welche profilbildenden Weichenstellungen des Fachbereichs die kommenden Jahre prägen werden. Dazu zählen inklusive Bildung und Sonderpädagogik, Mehrsprachigkeit und Bildung, Berufspädagogik sowie Digitalisierung in pädagogischen Handlungsfeldern. Die Einwerbung zahlreicher Drittmittelprojekte, die Umgestaltung von Profilschwerpunkten in der Lehre sowie die Neubesetzung von vielen (unbefristeten) Stellen im wissenschaftlichen Mittelbau prägen diese Tendenzen fort.
Dr. Patrick Gollub
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 8, 11. Dezember 2024.