Symbiose von Ritualen und Schulmedizin
Je weiter man sich von städtischen Ballungszentren entfernt, desto weniger reicht die Infrastruktur zur Versorgung psychisch erkrankter Menschen aus. Dieser Satz könnte vielleicht auch für Deutschland gelten. Woanders gilt er ähnlich oder aber erst recht. In Indonesien beispielsweise, wo Prof. Dr. Thomas Stodulka und sein Doktorand Florin Cristea vom Institut für Ethnologie Krankheitsverläufe erforschen, vor allem auf den Inseln Java und Bali. Gerade erst sind die Wissenschaftler von ihren jeweiligen Forschungsaufenthalten nach Münster zurückgekehrt. Thomas Stodulka, seit Oktober 2023 Professor für Sozialanthropologie in Münster, führte in Indonesien langfristige Feldforschungen durch. An seinem DFG-geförderten Forschungsprojekt „Afflicted Minds – ‚Madness‘, morality, and emotions in rural Bali“ ist auch Doktorand Florin Cristea beteiligt.
Indonesien zählt mit rund 377 Millionen Einwohnern zu den bevölkerungsreichsten Nationen der Welt. Soziale Ungleichheit sowie kulturelle und religiöse Vielfalt prägen Krankheitserfahrungen und die psychiatrische Versorgung. Oft sind es die Familien und Angehörige, die die Kosten für die Behandlung von Menschen mit einer psychischen Krankheit übernehmen. Die meisten psychiatrischen Einrichtungen befinden sich in den Ballungszentren Javas, in Bali ist das Versorgungsprofil ähnlich. Die Art und Weise, wie traditionelle und schuldmedizinische Behandlungen ineinandergreifen, scheint derzeit im Wandel zu sein.
„Seit etwa zehn Jahren gibt es auch in den Ländern des Globalen Südens das Bestreben, psychische Erkrankungen vermehrt schulmedizinisch zu behandeln und eine entsprechende Versorgung sicherzustellen“, erläutert Thomas Stodulka. Traditionelle Medizin, vor allem bei der Behandlung von Schizophrenie oder Depression, basiere jedoch nach wie vor auch auf Kräutern oder ritueller Medizin. „Geistliche oder Experten führen beispielsweise das Hindu-Ritual ,Melukat‘ durch, bei dem Wasser eine große Rolle spielt.“ Neuerdings verbänden sich die unterschiedlichen Ansätze immer mehr. „Erkrankte und ihre Familien machen sich stark dafür, die jeweiligen Vorteile der beiden Medizinsysteme zu nutzen.“
Am Beispiel von Schizophrenie gelte: „Solange es keine krassen Vorfälle gibt, wird Stimmenhören nicht immer negativ gesehen, sondern mitunter auch als eine Gabe. Erst wenn es die soziale Gemeinschaft stört, erwägen Menschen, sich an Gesundheitszentren zu wenden. Von dieser ersten Anlaufstelle aus wird man in Kliniken oder zu Heilern weiter überwiesen, auf Bali an hinduistische Priester, auf Java an muslimische Mittler, sogenannte ,Kyai‘.“
Die traditionellen Therapien zielten häufig auf die Moral. „Wurde jemand krank, muss sich demnach jemand in der Familie bei Ritualen falsch verhalten oder soziale Regeln nicht beachtet haben.“ Eine psychiatrische Diagnose gebe dem, was Betroffenen widerfährt, hingegen einen neutralen Rahmen. „Nicht die Familie, das Dorf oder ich haben sich falsch verhalten, sondern es ist eine Erkrankung.“ Das helfe oft, um die Betroffenen zu entlasten und die Genesung zu beschleunigen. Ihnen kleine Aufgaben in ihrer gewohnten Umgebung, also ihrem Viertel oder ihrer Nachbarschaft, zu übertragen, habe sich ebenfalls als vielversprechend herausgestellt.
„In Bali und Java sieht die psychiatrische Behandlung anders aus als hierzulande, beispielsweise was den Umgang mit Emotionen angeht“, unterstreicht Thomas Stodulka. Sein ethnographisches Forschungsprojekt untersucht, wie sich lokales und globales Wissen gegenseitig beeinflussen. Er und Florin Cristea arbeiten dafür mit professionellen Netzwerken, lokalen und internationalen Institutionen zusammen, zum Beispiel mit Selbsthilfegruppen, Therapeutinnen und Heilern. Über 80 Interviews hat Florin Cristea zudem mit Patientinnen und Patienten, Heilerinnen, Psychologinnen und Psychiatern geführt. Manche Fälle begleiteten sie jahrelang. „Die Erfahrungen daraus fließen in die Global-Mental-Health-Bewegung wieder zurück, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Behandlungslücke für Menschen mit psychischen Störungen weltweit schulmedizinisch zu schließen“, berichtet der Sozialanthropologe. Ein Beispiel sei die Behandlung von psychischen Erkrankungen mit Medikamenten. Ritualarbeit wie das „Melukat“ in Bali oder „Ruqiah“ in Java sollten während der schulmedizinischen Behandlung nach Möglichkeit weitergeführt werden.
Autorin: Brigitte Heeke
Die Serie „fit und gesund“:
Sich fit halten und gesund werden oder bleiben: Das ist der Wunsch vieler Menschen. In dieser Serie stellen wir verschiedene Facetten von Gesundheit und Fitness an der Universität in den Mittelpunkt. Den sprichwörtlichen erhobenen Zeigefinger oder Patentlösungen bietet die Reihe nicht, jedoch eine wissenschaftliche Einordnung und zudem einige praktische Tipps.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 6. November 2024.