Lang lebe das Drama
„Wave upon wave has crashed about us, but we’ve remained“ („Welle um Welle ist über uns hereingebrochen, aber wir sind geblieben”) – so lautet eine der prägnantesten Zeilen des erstens Chors in David Greigs Theaterstück „Europe“. Es ist eine der Zeilen, die das Ensemble der münsterschen „English Drama Group“ (EDG) während seiner Probe an einem warmen Spätsommerabend von vorne in die leere Studiobühne schickt. Es ist eine Zeile, die sich die Gruppe angesichts ihrer langen und bewegten Historie zu eigen machen könnte – und die auch auf Iris Adamzick zutrifft. Sie leitet als Regisseurin die Proben und die bevorstehende Aufführung des Stücks „Europe“.
Es ist beileibe nicht die erste Produktion der EDG, die Iris Adamzick miterlebt und mitgestaltet. Seit 1983 ist sie (mit kleineren Unterbrechungen) Teil der Theatergruppe. Wenige Tage nach Studienstart, Iris Adamzick war gerade aus Ostwestfalen nach Münster gezogen, erkundigte sich die Englisch- und Deutschstudentin bei der Fachschaft Anglistik nach Möglichkeiten, an der Uni Münster zu schauspielern. Die bot die 1974 gegründete EDG, zu deren Probe Iris Adamzick prompt ging. Sie brachte Schauspielerfahrung mit, stand schon mit elf Jahren auf der Bühne. „Ich sehe mich noch mit Strumpfhosen auf dem Kopf Till Eulenspiegel spielen“, erzählt die Wahlmünsteranerin mit einem Lachen, während sich im Hintergrund das Ensemble aufwärmt und dafür unter immer neuen Anweisungen durch den Saal läuft. „Seitdem ich damals zu meiner ersten Probe gegangen bin, bestimmt die Gruppe mein Leben ganz schön mit.“
Dass ausgerechnet sie für diesen Text so im Mittelpunkt steht, ist Iris Adamzick etwas unangenehm. „Ich arbeite inzwischen lieber im Hintergrund“, betont sie und verweist mehrmals darauf, dass die EDG gar keinen richtigen Kopf habe, sondern dass alles gleichberechtigt vonstattengehe und die Produktionen gemeinsam gestaltet würden. Passend zur Bühnensprache Englisch sagt Iris Adamzick darum: „There’s no place for a diva.“ Keine Überraschung: Das Englische ist an diesem Abend sehr präsent. Neben dem englischsprachigen Stück, das auf der Bühne geprobt wird, erfolgen auch die meisten Absprachen, Anweisungen und Unterhaltungen in englischer Sprache. Man scheint sich wohlzufühlen in der Fremdsprache und untereinander und kann so auch diejenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, reibungslos einbeziehen.
Nach dem Aufwärmen geht es für den „Cast“, wie das Ensemble hier genannt wird, auf die Bühne. Es steht die Probe des ersten Chors an. Eigentlich sollten acht Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne stehen, doch heute fehlen ein paar Mitglieder. Darum übernehmen Iris Adamzick und ein weiteres Mitglied der Gruppe Dialogzeilen, die die übrigen Schauspieler aufgreifen und so in ihrem Text fortfahren können.
Im Anschluss an den Chor steht die Szene „Departure“ (Abreise) auf dem Programm. Dafür finden sich drei Schauspieler als die Figuren Billy, Berlin und Horse auf der Bühne ein, imitieren mit drei Stühlen eine Bushaltestelle. Billy wartet auf einen Bus, der ihn aus dem namenlosen kleinen Ort am Rande Europas fortbringen soll. Denn dort sieht er für sich keine Perspektive, er will anderswo sein Glück versuchen. In der Szene geht es um Freundschaft und Abschied, um Zuwanderung und Fremdenfeindlichkeit, um Zukunftsträume und den Wunsch, irgendwann mit einem eigenen Mercedes zurückzukehren und den alten Freunden zu zeigen, dass man es geschafft hat. „Flüchtlinge, die verzweifelt Schutz suchen; Neofaschisten, die durch die Straßen ziehen; ein Land, das von Chaos bedroht ist: Wenn man das Stück liest, glaubt man kaum, dass es 1994 erschienen ist. Wir führen es heute auf, weil es ein flammendes Plädoyer für ein friedliches und vereintes Europa ist“, erklärt Iris Adamzick.
Die Regisseurin weist die Schauspieler auf der Bühne an, ergründet mit ihnen die Figuren und ihre Motive. Sie wünscht sich, dass die Szene „etwas melancholisch ist und gleichzeitig lustig“. Die Schauspieler nehmen das Besprochene auf, gehen zurück an den Anfang, proben wieder und wieder einzelne Elemente. Es wird langsam, die Stimmung ist gut.
Anschließend soll eine weitere Szene geprobt werden, hierfür sind kleine Umbauten erforderlich. Iris Adamzick hat so Gelegenheit, mehr von sich und der EDG, die aus Studierenden und Berufstätigen verschiedenen Alters besteht, zu erzählen. „Wir wollen in der Festwoche der Studiobühne mit unserem Stück Premiere feiern. Der Zeitplan ist eng“, unterstreicht sie. Trotzdem sei sie zuversichtlich, dass alles klappt. Sie und die EDG haben schon viel erlebt. Früher sei die Anbindung an das Englische Seminar sehr eng gewesen, um Nachwuchs und Zuschauer hätten sie sich lange keine Sorgen machen müssen. „Wir stehen immer noch ganz gut da, aber vor allem die Coronapandemie hat den Fortbestand der Gruppe stark gefährdet“, führt die Regisseurin aus. „Und trotzdem proben wir seit 50 Jahren jeden Donnerstagabend in der Studiobühne, unserer Heimbühne, die uns ermöglicht, ,ein sehr professionelles Amateurtheater‘ zu sein. So sagen es zumindest andere über uns“, erklärt Iris Adamzick nicht ohne Stolz.
Sie selbst hat daran einen erheblichen Anteil. Als Englisch- und Deutschlehrerin sowie Theaterpädagogin an einer Gesamtschule in Havixbeck hat sie eigentlich schon alle Hände voll zu tun. „Manchmal glaube ich, dass ich verrückt bin, meine freien Abende und Wochenenden, die ich für Korrekturen und Unterrichtsvorbereitung bräuchte, am und mit dem Theater zu verbringen. Aber mir bedeutet die EDG sehr viel. Es ist toll, mit den Menschen zu arbeiten und mich künstlerisch zu betätigen“, erklärt Iris Adamzick. Gleichzeitig hoffe sie, dass jemand anderes mehr Verantwortung übernähme und die EDG in die Zukunft führe. Bis dahin wird sie ihrer Theatergruppe aber wohl treu bleiben – und das nächste Stück, die nächste Probe und wie jetzt, an diesem Abend, über den die Dunkelheit bereits hereingebrochen ist, die nächste Szene angehen.
Autor: André Bednarz
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 6, 2. Oktober 2024.
Terminhinweis:
7. November, 20 Uhr: „Europe“ von David Greig (Premiere), English Drama Group, Studiobühne, Domplatz 23
FESTWOCHE:
Das Team der Studiobühne hat zum 75-jährigen Jubiläum eine Festwoche organisiert. Vom 3. bis 10. November erwartet die Gäste eine große Vielfalt von mehr als 20 Theaterstücken, Filmvorführungen, Erzählkunst, Hörspielen und Konzerten. Eröffnet werden die Feierlichkeiten am Montag, 4. November, um 19 Uhr von Prorektor Prof. Dr. Michael Quante, Dekan Prof. Dr. Eric Achermann und Prof. Dr. Katerina Stathi. Anschließend folgt um 20 Uhr das Solostück nach Nadine Kegele „Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause“.
Auszüge aus dem Programm:
- 3. November, 18 Uhr: „Schöne Fremde, K.I.“, Theater en face
- 6. November, 20 Uhr: „Mario und der Zauberer“ nach Thomas Mann, Theater en face & Marion Bertling
- 6. November, 22 Uhr: Gesichter der Studiobühne – ein Film von Dennis Kail und Simon Richard
- 7. November, 19 Uhr: Von der Studiobühne in die Film-, Fernseh- und Theaterwelt. Ein Podiumsgespräch. Moderation: Dr. Elisa Franz
- 8. November, ab 18 Uhr: Lange Nacht der Studiobühne mit vier Inszenierungen
- 9. November: Internationaler Rezitationswettbewerb „Erich Kästner“, öffentlicher Abend ab 20 Uhr (mit Publikumspreis)
- 10. November, 20 Uhr: Momos Fußstapfen, Konzert mit Michael Mond
Das gesamte Programm ist online einsehbar. Eine Kartenreservierung ist per E-Mail an rhetorik@uni-muenster.de möglich.
Links zu dieser Meldung
- Die English Drama Group an der Studiobühne
- Das Programm der Festwoche vom 3. bis 10. November
- Die Studiobühne der Universität Münster
- Weiterer Beitrag der Themenseite: Stimmenfang – ein Dramolett
- Weiterer Beitrag der Themenseite: Vorhang auf für eine „famose Lokalität“!
- Weiterer Beitrag der Themenseite: Drei Perspektiven auf die Studiobühne
- Die Oktober-Ausgabe der Unizeitung als PDF
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