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Zwischen politischen, kulturellen und religiösen Bevölkerungsgruppen in pluralen Gesellschaften entstehen Spannungen. Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ untersucht, wie Zugehörigkeiten entstehen, Konflikte reguliert werden und Ausgleich zustande kommt.<address>© Exzellenzcluster „Religion und Politik“/ Stefan Matlik</address>
Zwischen politischen, kulturellen und religiösen Bevölkerungsgruppen in pluralen Gesellschaften entstehen Spannungen. Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ untersucht, wie Zugehörigkeiten entstehen, Konflikte reguliert werden und Ausgleich zustande kommt.
© Exzellenzcluster „Religion und Politik“/ Stefan Matlik

Religion ist ein politisch ambivalentes Phänomen

Exzellenzcluster untersucht Dynamiken der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit – ein Gastbeitrag von Michael Seewald

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ erforscht seit 2007 das wechselvolle Verhältnis von Religion und Politik quer durch die Epochen und Kulturen, angefangen vom Alten Ägypten bis in die Gegenwart. Unserem Forschungsverbund gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 25 verschiedenen Disziplinen an: aus den Geschichtswissenschaften und den Theologien, den Sozialwissenschaften und den Philologien, der Rechtswissenschaft und der Philosophie.

Religion ist ein politisch ambivalentes Phänomen. Sie kann Zusammenhalt schaffen und Spaltung bringen, zum Motor gesellschaftlicher Veränderung oder zum Anwalt des Bestehenden werden. Wer jedoch Religion nicht nur gegenwartsbezogen betrachtet, sondern mit historischer Tiefenschärfe, und wer Religion nicht nur europazentriert untersucht, sondern auch auf andere Regionen der Erde blickt, stellt fest: Religion im Singular gibt es nicht. Das gilt nicht nur angesichts der Vielzahl an Traditionen und Gemeinschaften, die wir „Religionen“ nennen, sondern auch für das, was der Begriff „Religion“ überhaupt bezeichnet und wie Religion mit Politik verflochten ist. In der Antike zum Beispiel waren Konflikte, die um konkurrierende Überzeugungen hinsichtlich der Götter kreisten, selten. In polytheistischen Kontexten umfasste das Pantheon unter Umständen Tausende Gottheiten und war nicht geschlossen, konnte also neue Götter integrieren, ohne dass die Anhänger verschiedener Kulte miteinander in Konflikt gerieten. Schaut man auf Gesellschaften in Ost- und Südostasien heute, zeigt sich, dass religiöse Zugehörigkeiten nicht so feinsäuberlich getrennt sind, wie man es in (West-)Europa gewohnt sein mag. Menschen können mehreren Religionen angehören und Praktiken pflegen, die aus westlicher Sicht nicht kompatibel erscheinen. Wer also etwas darüber wissen möchte, wie komplex Zugehörigkeiten zusammengesetzt sein können, welche Konflikte sich aus ihnen ergeben und unter welchen Umständen Konflikte möglicherweise ausbleiben, sollte sich mit Religion befassen.

Prof. Dr. Michael Seewald<address>© privat</address>
Prof. Dr. Michael Seewald
© privat
Das gilt nicht nur für Asien, sondern unter anderen Vorzeichen auch für westliche Gesellschaften, in denen religiöse Zugehörigkeit ebenfalls komplexer wird. Dies hat mit zwei Faktoren zu tun. Auf der einen Seite steigt die Pluralität religiöser Bekenntnisse und ihrer kulturellen Ausdrucksformen. Dadurch wird die politische Regulierung von Religion anspruchsvoller, gerade in alltäglichen Dingen. Schulkantinen zeigen heute zum Beispiel eine höhere Sensibilität hinsichtlich der Speisevorschriften oder -präferenzen, die mit einer religiösen Zugehörigkeit einhergehen können, als noch vor wenigen Jahren. Sie kennzeichnen etwa Produkte, die Schweinefleisch enthalten, und bieten Alternativen an. Auf der anderen Seite verstärken sich Säkularisierungstendenzen, sodass die Nichtzugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft, die vor Jahrzehnten eher selten war, zu einer breitengesellschaftlich akzeptierten Option geworden ist und möglicherweise zum Standardfall avanciert. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Religion(en). Denn ein Modell kooperativer Trennung, wie es sich in Deutschland etabliert hat, geht davon aus, dass irgendeine Form religiöser Zugehörigkeit die Regel ist. Wird eine solche Zugehörigkeit hingegen zur Ausnahme, stellt sich die Frage, inwiefern die starke Rechtsstellung, die etwa die christlichen Kirchen in Deutschland innehaben, politisch unter Druck gerät.

Es sind solche Dynamiken der Zugehörigkeit und der Nichtzugehörigkeit, die wir in der nächsten Förderphase ab 2026 untersuchen wollen.

Prof. Dr. Michael Seewald ist Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und Direktor des Seminars für Dogmatik und Dogmengeschichte.

 

Zahlen & Fakten: Der Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“

  • Untersucht seit 2007 das komplexe Verhältnis von Religion und Politik von der Antike bis heute
  • Größter Forschungsverbund dieser Art in Deutschland und der einzige Exzellenzcluster zum Thema Religion
  • Mehr als 150 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 25 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern
  • Hans-Blumenberg-Professur bringt jährlich Persönlichkeiten aus der internationalen Spitzenforschung nach Münster, im Sommer 2024 den US-Philosophen Kwame Anthony Appiah
  • Der Campus der Theologien und Religionswissenschaften führt ab 2025 die evangelische, katholische und islamische Theologie sowie die Religionswissenschaft der Universität Münster in der Stadt des Westfälischen Friedens zusammen.
  • Von 2019 bis 2025 mit 31 Millionen Euro gefördert

 

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 17. Juli 2024.

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