Nob(e)ler wird es nicht
Wie wahrscheinlich war und ist es wohl, einer oder einem der 970 Nobelpreisträgerinnen und -trägern zu begegnen, die die begehrte Auszeichnung seit der Erstverleihung im Jahr 1901 bekommen haben? Es ist natürlich äußerst unwahrscheinlich. Denn derzeit leben rund acht Milliarden Menschen auf der Erde, hinzukommen weitere Milliarden, die seit 1900 geboren wurden und inzwischen verstorben sind. Wer seine Chancen erhöhen will, in die Nähe eines Preisträgers oder einer Preisträgerin zu kommen, sollte folgenden Tipp beherzigen: Besuchen Sie im Frühsommer die Bodenseestadt Lindau, genauer gesagt das Nordufer der nur einen halben Quadratkilometer kleinen Insel der Stadt. Dort, in der Inselhalle, treffen sich anlässlich der Lindauer Nobelpreisträgertagung seit 1951 jährlich Dutzende Koryphäen ihres Fachs und tummeln sich gemeinsam mit Hunderten Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern fast eine Woche lang in der etwa 27.000 Einwohner großen Stadt.
Vor wenigen Wochen war es wieder so weit: Der exklusive Tagungskreis fand sich in Lindau ein und die Stadt wurde nach Stockholm zum Epizentrum der Nobelpreisträger – fast 40 von ihnen und mehr als 630 Nachwuchswissenschaftler aus 90 Ländern kamen zusammen, um über die Physik zu reden. Dabei mitmischen durfte auch die Universität Münster, und das in zweierlei Hinsicht: Zum einen gehörten Dr. Mohan M. Garlapati und Dr. Matthias Weiß zum Kreis der eingeladenen und damit ausgezeichneten Wissenschaftstalente. Zum anderen gehörte der Alumnus der Universität Münster und spätere Physiknobelpreisträger (1987), Dr. J. Georg Bednorz, zu den namensgebenden Ehrengästen der Tagung.
Zum 73. Mal lud das Kuratorium der Tagung, angeführt von Bettina Gräfin Bernadotte, die Spitzenforscher und solche, die gute Aussichten darauf haben, es in Zukunft zu sein, zum „einzigartigen internationalen Forum, das den wissenschaftlichen Dialog zwischen den Generationen und Kulturen fördert“, wie es auf der Website der Tagung heißt. Diesen Dialog eröffneten die Veranstalter in der Haupthalle der modernen und im Vergleich zur Altstadt der Insel so kontrastreichen Inselhalle. Neben der Gräfin waren etwa die deutsche Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger und die Nobelpreisträgerin Donna Strickland dabei. Ein imposantes Bild, von dem sich Matthias Weiß, Postdoc am Physikalischen Institut der Universität Münster in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Hubert Krenner, gut unterhalten fühlte. Doch nahm er vor allem ein auf der Bühne wiederholtes Motto mit in die kommenden Tage: „Erscheint früh und bleibt lange – ihr könnt auf dem Heimweg schlafen.“
Als wären die großen Namen der Wissenschaftsgemeinschaft nicht schon Einschüchterung genug, sollten die Teilnehmer nun auch noch auf ihren Schlaf verzichten? Abwegig und unvernünftig erschien das nicht angesichts der außergewöhnlichen und einmaligen Chance, die die jungen Wissenschaftler durch die Einladung zur Tagung bekamen. Matthias Weiß jedenfalls schien fest entschlossen, die Tagung nach diesem Motto zu gestalten. Am Morgen nach der Eröffnungsfeier fand er sich nach nur sechs Stunden Schlaf bereits um 7 Uhr im Hotel „Bayrischer Hof“ ein, wo ein Frühstück mit dem österreichischen Minister für Bildung, Wissenschaft und Forschung stattfand.
Das Tempo in den kommenden Tagen war hoch, der Plan dicht, was den Teilnehmern Einblicke in eine Vielzahl von Tagungsthemen ermöglichte: Es ging etwa um Quantenphysik, die Energieversorgung, Schwarze Löcher oder künstliche Intelligenz. In den verschiedenen Formaten sorgten meist die Nobelpreisträger für die ersten inhaltlichen Impulse. In 30-minütigen Vorträgen stellten sie beispielsweise ihre Forschungsschwerpunkte vor, so mit Witz der Österreicher Anton Zeilinger mit seinem Vortrag „A Voyage through Quantum Wonderland“ oder der schottische Chemienobelpreisträger Richard Henderson zum Einfluss von Physik in der strukturellen Biologie. Bei einem der „Agora Talks“ referierte Georg Bednorz darüber, wie der Einsatz von Supraleitern bei der Energiewende helfen kann. Die unzähligen Fragen aus dem Publikum an ihn und seinen Kollegen Eric Betzig zeigten, dass sie das richtige Thema gewählt hatten.
So wie die Nobelpreisträger von ihrer Forschung berichteten, so hatten auch ausgewählte junge Wissenschaftler die Gelegenheit dazu: Im „Next Gen Science“-Format präsentierten sie in Kurzvorträgen, wozu sie arbeiten. Die Oberthemen waren erstens der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Physik und zweitens, wie die Physik dabei helfen kann, die Herausforderungen der Energieversorgung zu meistern. Matthias Weiß, noch immer motiviert, die Zeit auf der Tagung voll auszukosten, folgte all diesen Programmpunkten aufmerksam. Ein Format ragte für ihn heraus: die „Open Exchanges“. In dem Fall mussten die Medienvertreter draußen bleiben, damit eine besonders intime und geschützte Atmosphäre entstehen konnte, wenn sich die Nobelpreisträger eineinhalb Stunden Zeit nahmen, um in kleiner Runde mit den Talenten zu sprechen. „Die fachliche Debatte war interessant. Viel interessanter aber war es, etwas über ihren Werdegang, ihre Denkweise und Einstellungen zu erfahren und so Facetten von den Spitzenforschern kennenzulernen, die für unseren eigenen Werdegang wichtig sein können“, erklärte Matthias Weiß, der vor seiner Anstellung an der Universität Münster in Augsburg studierte und promovierte.
Auch Mohan M. Garlapati aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Gerhard Wilde vom Institut für Materialphysik war glücklich, in Lindau dabei zu sein. „Meine Teilnahme ist einer der größten Erfolge meines Lebens und eine großartige Gelegenheit für meine Karriere. Ich bin sehr dankbar, dass mich der Dekan vorgeschlagen hat“, unterstrich der 29-jährige Inder, der 2020 am Indian Institute of Technology in Madras promovierte und seit 2021 in Münster forscht. Von einem „Open Exchange“ mit Johann Deisenhofer nahm er mit, dass man größtmögliche Beharrlichkeit braucht, um als Forscher erfolgreich zu sein. Für Mohan M. Garlapati bedeutet das: „Ich werde alles dafür tun, um Professor zu werden, da das mein Traumberuf ist.“
Das Interesse an den Nobelpreisträgern war zu allen Zeiten der Tagung groß, auch während der Pausen im belebten Foyer, in dem es Brote, Kuchen und viel Kaffee gab. Georg Bednorz, der in diesem Jahr zum achten Mal an der Tagung teilnahm, weiß das Interesse der Nachwuchswissenschaftler zu schätzen. „Die Tagung bietet Gelegenheit, die anderen Preisträger zu treffen, vor allem aber, mit den jungen Wissenschaftlern ins Gespräch zu kommen“, betonte er. Seine Prominenz wie die der anderen Preisträger sorgte aber auch dafür, dass er von Teilnehmern geradezu umzingelt wurde und unzählige Autogramme geben und Fotos mit ihnen machen musste.
Der Aufwand, der für die rund 700 Teilnehmer, zu denen weitere Gäste sowie Dutzende Medienvertreter zählten, betrieben wurde, war groß: Die moderne Inselhalle beherbergte die Tagungsgäste, ausgefeilte Technik fing vieles von dem ein, was gesagt und getan wurde (nachzuschauen in der Mediathek der Organisatoren), leckeres Essen und abwechslungsreiche Unterhaltung wie beim texanischen Abend mit Country- und Westerntänzen, Livemusik und Reiten eines mechanischen Bullen sorgten neben den anspruchsvollen Tagungsthemen für Ausgelassenheit und Ablenkung. „Es war eine beeindruckende und einzigartige Veranstaltung. Ich konnte viele neue Kontakte knüpfen und interessante Gespräche und Diskussionen führen. Rückblickend bin ich sehr dankbar für diese wertvollen Erfahrungen“, resümierte Matthias Weiß.
Die Organisation einer ruhmreichen Tagung
Das Motto der Lindauer Nobelpreisträgertagung lautet „Educate. Inspire. Connect“. Jährlich wechselt das Themengebiet zwischen Physik, Chemie und Medizin oder Physiologie. Alle fünf Jahre findet eine disziplinübergreifende Tagung statt. Die Organisation samt Bewerbungsstart für die jungen Wissenschaftler beginnt etwa ein Jahr vor jeder Tagung. Dabei sind Dutzende Personen aus Geschäftsstelle und Stiftung an der Vorbereitung und Durchführung beteiligt, ferner kommen bis zu 100 weitere Dienstleister und Personen hinzu, die die Tagungen vor Ort realisieren.
Die Einladungen an die Nobelpreisträger erfolgen durch Bettina Gräfin Bernadotte als Präsidentin des Kuratoriums. Damit die Nachwuchswissenschaftler, namentlich Bachelor- oder Masterstudierende, Doktoranden und junge Postdocs, an der Tagung teilnehmen dürfen, müssen sie ein zweistufiges Bewerbungsverfahren durchlaufen. Sie können sich entweder selbst bewerben oder müssen, wie im Fall der Universität Münster als akademischer Partner der Tagungen, vorgeschlagen werden. Nach Sichtung der Unterlagen werden die aussichtsreichen Kandidaten gebeten, weitere Informationen zur Verfügung zu stellen: eine Übersicht über ihre Leistungen, ein Motivations- und ein Empfehlungsschreiben.
Autor: André Bednarz
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 5, 17. Juli 2024.