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Münster (upm/ap).
Zwei Mitarbeiterinnen im Labor der MGSE.<address>© Uni MS - MGSE</address>
An der MGSE lassen sich täglich evolutionäre Prozesse beobachten.
© Uni MS - MGSE

Die Evolution bei der Arbeit

Promovierende der Münster Graduate School of Evolution stellen ihre Forschung vor

Evolution ist niemals abgeschlossen, sondern ein andauernder Prozess – zunehmend geprägt von menschlichem Einfluss. Und auch die Erforschung der Evolution wirft immer wieder neue Fragen auf. Die Münster Graduate School of Evolution (MGSE) bringt seit 2011 an der Hüfferstraße die Fakultäten für Biologie, Medizin, Geowissenschaften, Mathematik und Philosophie zusammen, um die interdisziplinäre Evolutionsforschung an der Universität Münster zu bündeln. „Geisteswissenschaften profitieren etwa von den Befunden der Lebenswissenschaften, während diese durch geisteswissenschaftliche Forschung ein breiteres Verständnis für die verschiedenen Bedeutungen der Evolution erfahren“, erläutert der Biologe Prof. Dr. Joachim Kurtz, Leiter und Gründer der MGSE. Kern der Graduiertenschule ist ein Studienprogramm für internationale Promovierende: von der Evolution der Erde bis zur Evolution der Evolutionstheorie. Drei Doktorandinnen und ein Doktorand geben Einblicke in ihre Arbeit und zeigen, welche Rolle die Evolution konkret in ihrem Forschungsalltag spielt.

 

Von optimistischen und pessimistischen Ratten

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Diese Frage können wir mit neuen Testverfahren aus der Emotions- und Wohlergehensforschung nun auch Tieren stellen. Denn manche Tierarten haben eine optimistische oder pessimistische Bewertungstendenz: Ähnlich zu Menschen sind sie optimistischer, wenn sie guter Laune sind. Trotzdem bleiben einige unabhängig vom Kontext stets optimistischer als andere. Solche individuellen Unterschiede bezeichnen Biologen als „Tierpersönlichkeit“. Dies ist ein spannender Aspekt der Evolutionsforschung, denn er steht im Widerspruch zu der allgemeinen Annahme, dass die natürliche Selektion auf ein bestimmtes Verhaltensoptimum hinwirkt.

Portraitfoto Sophia Marie Quante<address>© privat</address>
Die Verhaltensbiologin Sophia Marie Quante promoviert zum Thema „Optimistische und pessimistische Nagetiere – Unterschiede in der Interpretation mehrdeutiger Hinweise und ihre Folgen für die Nischenkonformität bei Laborratten“.
© privat
Was sind die Konsequenzen von Tierpersönlichkeiten und welche Eigenschaften machen einen optimistischen Persönlichkeitstyp aus? Hierauf möchte ich in meinem Dissertationsprojekt Antworten finden. Dabei arbeite ich mit Ratten als Modellspezies. Bereits im alltäglichen Umgang sehe ich Unterschiede: So ist es immer dasselbe Tier, das mir zuerst aus dem Käfig entgegenspringt. Ein anderes bleibt stets im Häuschen sitzen. Solche Abweichungen erfasse ich durch Verhaltenstests. Neben klassischen Messungen zum Erkundungsverhalten untersuche ich zudem eine mögliche Pfotenpräferenz der Tiere, also ob sie lieber die linke oder rechte Vorderpfote benutzen, und ihre Laute während des Spielens – das sogenannte „Lachen der Ratten“.

Die Abwechslung zwischen praktischer Laborarbeit und anschließender Datenanalyse sowie -veröffentlichung garantiert einen vielseitigen und spannenden Forschungsalltag. Eine besondere Herausforderung liegt in der Verwendung des Persönlichkeitsbegriffs, dessen verhaltensbiologische Definition von derjenigen in anderen wissenschaftlichen Disziplinen abweicht. Dabei profitiere ich von der interdisziplinären Vernetzung der MGSE, die es ermöglicht, Projekte aus den Blickwinkeln verschiedener Forschungsbereiche zu betrachten.

 

Gesundheit, Krankheit und Evolution

Ich beschäftige mich mit den Grenzen und Möglichkeiten von Mismatch-Argumenten in der evolutionären Medizin. Das klingt abstrakt, hat aber einen konkreten Bezug: Die evolutionäre Medizin ist ein Forschungsgebiet, das physiologische Erklärungen um tiefergehende evolutionäre Erklärungen ergänzt. Es geht also allgemein darum, weshalb wir anfällig für Krankheiten sind – schließlich gewähren Krankheiten ihrem Träger wohl keinen Selektionsvorteil.

Portraitfoto Jonas Pöld<address>© Fabian Schwarze</address>
Der Philosoph Jonas Pöld promoviert zum Thema „Krankheit, Gesundheit und Enhancement als dichte Konzepte im Kontext der evolutionären Medizin“.
© Fabian Schwarze
Die evolutionäre Medizin kennt verschiedene Lösungen für das Rätsel unserer Anfälligkeit: Eine Erklärung ist der Wettstreit mit pathogenen Mikroorganismen, die Infektionskrankheiten auslösen. Dieser Ansatz ist in der Medizin gut etabliert. Eine weitere Erklärung macht deutlich, dass wir heute in einer anderen Umwelt leben als jener, an die wir eigentlich angepasst sind. Das ist die sogenannte Mismatch-Erklärung, die ich in meiner Arbeit analysiere.

Bei meiner Forschung profitiere ich von der interdisziplinären Vernetzung in der MGSE: Die Verhaltensbiologie untersucht, wie sich Populationen von Mäusen unter Mismatch-Bedingungen verändern. Die empirischen Resultate sind für mein Projekt relevant, auch wenn ich als Philosoph andere Fragestellungen verfolge: Zum einen erforsche ich aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, welche Beweislasten erbracht werden müssen, damit eine Mismatch-Hypothese als gerechtfertigt gelten kann. Zum anderen untersuche ich die normativen Schlussfolgerungen, die vielfach mit der Problemdiagnose eines Mismatches einhergehen, aber nicht lückenlos aus den empirischen Resultaten abzuleiten sind. Während in der Philosophie einige Skepsis hinsichtlich der Anwendungspotenziale von Mismatch-Erklärungen in humanmedizinischen Kontexten besteht, hoffe ich, auch ihre Potenziale aufzeigen zu können.

 

Neue Proteine aus zufälligen Sequenzen

Der Schimpanse ist unser nächster Verwandte, 96 bis 99 Prozent unseres Erbgutes sind komplett gleich. Wie also kann es sein, dass trotzdem unterschiedliche Spezies entstehen? Eine mögliche Erklärung liegt in der Evolution von neuen Proteinen, die ich in meinem Projekt näher betrachte. Viele neue Proteine, umgangssprachlich auch Eiweiße genannt, entstehen durch Wiederverwertung von bereits vorhandenen Proteinen. Allerdings können sich neue Proteine auch dadurch bilden, dass zuvor inaktive Bereiche des Genoms aktiviert werden und gänzlich neue Proteinsequenzen hervorbringen. Diesen Prozess bezeichnen Experten als „de novo“-Evolution.

Portraitfoto Margaux Aubel<address>© Mikhail Makarov</address>
Die Bioinformatikerin Margaux Aubel promoviert zum Thema „Evolution von Struktur und Faltung in humanen de novo Proteinen“.
© Mikhail Makarov

In den Anfängen der Molekularbiologie galt es als unmöglich, dass Proteine vollkommen neu durch eine zufällige Assoziation von Aminosäuren entstehen können, ohne auf vorhandenen Proteinen zu basieren. Inzwischen wissen wir, dass diese De-novo-Entstehung von Proteinen nicht nur möglich ist, sondern sogar häufiger passiert als gedacht. Doch wie können diese zufälligen Proteinsequenzen eine Funktion haben, wo sie doch noch nicht von der Evolution geformt worden sind? Oft wird angenommen, es handle sich um Millionen von Jahren der Optimierung – was in vielen Fällen auch zutrifft –, aber manchmal scheint es doch nur Zufall zu sein.

Um diese De-novo-Proteine zu untersuchen, arbeite ich sowohl im Labor als auch am Computer. Zuerst charakterisiere ich die Proteine mithilfe von Experimenten, dann werte ich die Ergebnisse aus und vergleiche diese mit den ursprünglichen Hypothesen und gegebenenfalls computerbasierten Vorhersagen. Innerhalb der MGSE präsentieren wir unsere Ergebnisse regelmäßig vor einem interdisziplinären Publikum und bekommen konstruktive Kritik.

 

Käfer prägen aktiv ihre Umwelt

Ich arbeite an Belegen für die Theorie, dass die Nischenkonstruktion, also das Einwirken von Spezies auf ihre Umwelt, die Evolution beeinflusst. Bislang galten Organismen in der Regel als weitgehend passive Elemente, die auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren – diese Annahme möchte ich empirisch widerlegen. Am Beispiel des Mehlkäfers untersuche ich, wie Organismen ihre Umgebung aktiv durch ihre Aktivitäten, ihren Stoffwechsel und Entscheidungen verändern, was wiederum ihre eigenen Evolutionspfade beeinflussen kann. So kann sich etwa die Entwicklung von Immunitäten gegen Krankheiten nicht nur auf die Organismen selbst, sondern auch auf Artgenossen und sogar andere Spezies auswirken und die ökoevolutionäre Dynamik zwischen Wirten und Parasiten prägen. Solche Erkenntnisse könnten unser Verständnis der evolutionären Prozesse erweitern, die Koexistenz und Artbildung vorantreiben, und wichtige Auswirkungen auf die Humanmedizin haben.

Portraitfoto Lai Ka Lo
Die Biotechnologin Lai Ka Lo promoviert zum Thema „Nischenkonstruktion beim Roten Mehlkäfer“.

Die Theorie der Nischenkonstruktion bietet neue Einblicke in die Evolutionsmechanismen und betont, wie Organismen ihre Umgebung aktiv verändern und dadurch ihren eigenen Evolutionsweg gestalten. Dies deckt sich mit meiner persönlichen Überzeugung, dass wir mehr Macht haben, unsere eigene Zukunft zu gestalten, als nur von äußeren Faktoren und unseren ererbten Merkmalen bestimmt zu werden. Die Entwicklung neuer Methoden macht es möglich, den ersten empirischen Beweis für die Bedeutung der Nischenkonstruktion in der Evolution zu erbringen – normalerweise dauert der Prozess Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Durch den Einsatz der experimentellen Evolution in Kombination mit der Analyse genetischer Veränderungen können wir nun die Vorhersagen der Theorie testen und die Entwicklung in Echtzeit verfolgen. Der disziplinübergreifende Austausch an der MGSE mit Philosophen und Mathematikern über Schlüsselkonzepte wie „Nische“ und „Fitness“ sorgen für begriffliche Klarheit und einen soliden theoretischen Rahmen für meine Studie.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2024.

 

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