„Ein Technologiewandel reicht nicht aus“
In den 1950er-Jahren mussten viele deutsche Städte aufgrund der Schäden durch den Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut werden. Die Städteplaner richteten ihre Konzepte auf Autofreundlichkeit aus: breite Straßen, mehrspurige Autokreisel, Schnellstraßen und Autobahnen. Heute – etwa 70 Jahre später – werden zunehmend Forderungen nach autofreien Innenstädten laut. Die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Antonia Graf und der Verkehrsökonom Prof. Dr. Gernot Sieg von der Universität Münster diskutieren anlässlich des „Mobil-ohne-Auto“-Tages am 16. Juni im Interview mit Linus Peikenkamp und Johannes Wulf darüber, welche Faktoren für eine Mobilitätswende in Städten entscheidend sind.
Deutschland gilt als Land der Autofahrer. In unseren Städten ist ein Kulturkampf ums Auto entstanden: zu viele, zu laut, zu dreckig. Brauchen wir also autofreie Innenstädte?
Antonia Graf: Wenn wir in den Städten mehr Platz gewinnen möchten, muss das, was den meisten Raum einnimmt, geringer werden. Daher sollte der alltägliche Autoverkehr deutlich reduziert werden. Ich würde dennoch nicht für eine autofreie, sondern für eine autoarme Innenstadt plädieren, in der beispielsweise Krankenwagen, die Polizei oder Taxis fahren können.
Gernot Sieg: Wenn man Taxis erlaubt, würde man reicheren Menschen weiterhin motorisierten Individualverkehr ermöglichen, während sich ärmere Menschen das Taxi nicht leisten können. Ansonsten würde ich zustimmen und autoarme gegenüber autofreien Innenstädten bevorzugen – insbesondere in größeren Städten, wo die Zufriedenheit der Menschen mit der Infrastruktur geringer ist als in kleinen Städten.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing brachte kürzlich Fahrverbote an Wochenenden in die Debatte um die Mobilitätswende ein. Sind Verbote der richtige Weg, um den Autoverkehr in Innenstädten zu reduzieren? Oder funktioniert das auch über finanzielle Anreize?
Graf: Verbote sind in Ordnung, wenn es attraktive Alternativen gibt und wir es schaffen, einen Öffentlichen Personennahverkehr, also einen ÖPNV zu etablieren, bei dem die Verkehrsmittel problemlos gewechselt werden können und es zu einer Zeitersparnis kommt.
Sieg: Anreize können zwar sinnvoll sein, jedoch erreichen wir Menschen in hohen Einkommensschichten damit nicht. Denjenigen, die viel Geld haben, sind finanzielle Anreize in den meisten Fällen egal. Es gibt aber politische Konzepte, die Bürger zu nachhaltiger Mobilität anregen sollen.
... zum Beispiel das 49-Euro-Ticket. Eine sinnvolle Maßnahme der Bundesregierung?
Graf: Seit der Einführung des Tickets fahren immer mehr Menschen mit dem Zug. Das ist insofern eine positive Entwicklung, als diese Personen eine neue Form der Mobilität für sich entdecken und ausprobieren. Erste Studien über das Deutschlandticket zeigen aber auch, dass der Autoverkehr dadurch nicht abgenommen hat. Der erhoffte Effekt ist also ausgeblieben.
Was hindert Menschen denn daran, morgens nicht in die Garage, sondern an die Bushaltestelle oder zum Bahnhof zu gehen?
Sieg: Das ist eine Kostenfrage, bei der es nicht nur um Fahrt-, sondern auch um Zeitkosten geht. Oft kommt es vor, dass man auf Busse und Züge warten muss oder die Taktung nicht der privaten Zeitplanung entspricht. Dann ist das Auto schlicht die zeitsparendere Methode, um schnell von A nach B zu kommen.
Graf: Darüber hinaus sollten wir überlegen, wie Umstiegs- und Wartezeiten attraktiver werden können. Wenn man beispielsweise Internetzugang hat und arbeiten kann, während man auf den nächsten Bus wartet, ist das Problem der Zeitkosten möglicherweise etwas geringer.
Bequemlichkeit und Flexibilität, die Autos bieten, spielen also eine große Rolle. Was müsste getan werden, um auch den ÖPNV ‚bequemer‘ zu machen?
Graf: Zunächst müssen wir uns Wegeketten anschauen und beobachten, welche Menschengruppen welche Strecken zurücklegen. Frauen fahren häufig andere Wege als Männer, da sie mehr Sorgearbeit leisten und beispielsweise häufiger in Begleitung unterwegs sind. Diese Perspektive ist in den aktuellen Debatten unterrepräsentiert. Der Komplexität dieser verschiedenen Routen durch den ÖPNV gerecht zu werden, ist eine Herausforderung, die wir bislang noch nicht gemeistert haben. Daher fokussiert sich die Verkehrsplanung viel auf die sogenannten ‚letzten Meilen‘, also die Wege bis zum Zielort. Wenn es hier keine Alternativen gibt, fahren die meisten Menschen Auto.
Sieg: Der Vorteil des ÖPNV ist, dass er die Wege vieler Menschen bündelt. Das funktioniert aber nur in großen und dichten Städten, in denen viele Menschen auf derselben Strecke unterwegs sind. In kleineren Städten oder ländlichen Regionen rechnet sich das Personal des ÖPNV nicht immer, da die Ansprüche der Bevölkerung heterogener sind. Daher sollte man überlegen, wie man den Verkehr in diesen Regionen autoärmer gestalten könnte und den Blick nicht nur auf Großstädte richten.
Das klingt danach, als wäre die Mobilitätswende nicht nur eine verkehrs-, sondern auch eine stadtplanerische Herausforderung. Ließe sich ein Konzept entwickeln, mit dem die von Ihnen angesprochene ‚letzte Meile‘ weniger komplex ist?
Graf: Das ist die Idee einer 15-Minuten-Stadt, in der alle Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad in 15 Minuten erreichbar sind. Es gibt erste Modellquartiere, in denen versucht wird, wichtige Einrichtungen wie den Arbeitsplatz, den Hausarzt und den Supermarkt zu bündeln. Doch in diesen Fällen sind kleinere Städte erneut im Nachteil, da es dort häufig ohnehin bereits Probleme wie beispielsweise einen Fachärztemangel gibt.
Sieg: Die Idee der 15-Minuten-Stadt ist gut für Singles, die dorthin ziehen können, wo sie arbeiten. Komplizierter ist es in Mehrpersonenhaushalten. Betrachten wir als Beispiel ein Lehrerpaar, das in Münster wohnt. Beide haben hier studiert, jetzt werden sie an unterschiedliche Schulen, in der Regel in anderen Städten, eingesetzt. In dieser Lebenssituation wäre die 15-Minuten-Stadt nicht realisierbar, da Personen desselben Haushalts unterschiedliche Wege zurücklegen müssen.
Sie sprachen bereits an, dass das Auto insbesondere für Bewohner ländlicher Regionen das attraktivste Verkehrsmittel ist. Wie lassen sich in diesen Räumen Anreize schaffen, den Pkw zuhause stehen zu lassen?
Graf: ‚Sharing‘-Initiativen bieten dafür in gewissem Maße eine Lösung. Mit ‚Foodsharing‘ können beispielsweise die Fahrten zum nächsten Supermarkt wahrscheinlich nicht vermieden, aber reduziert werden. Das ist nur ein Beispiel, wie man an das Problem herangehen könnte.
Sieg: Ich betrachte diese Frage auch aus einer technologischen Perspektive. Wenn der Kulturwandel nicht funktioniert, können wir mit batterieelektrischen Fahrzeugen zumindest die Klimaschädlichkeit des motorisierten Individualverkehrs reduzieren, auch im ländlichen Raum.
Ist es wirklich so einfach gelöst? Der ökologische Fußabdruck von Batterieproduktionen ist ebenfalls sehr hoch ...
Graf: Elektromobilität ist sinnvoll, wenn mehrere Personen in leichteren kleineren Autos sitzen. Dann ist der Fußabdruck pro Person geringer. Wenn die Batterieproduktion zukünftig stärker in Europa verankert würde – und da scheint es Bewegung zu geben –, wäre die Nachhaltigkeit von Elektromobilität potenziell noch größer.
In manchen europäischen Städten sind weite Teile des Zentrums für den Autoverkehr gesperrt. Warum passiert das in deutschen Städten bislang nicht?
Graf: Deutsche Städte haben mit enormen planungsrechtlichen Hürden zu kämpfen. Ende letzten Jahres ist eine Reform der Straßenverkehrsordnung gescheitert, die den Kommunen eine eigenständige und flexiblere Verkehrsplanung ermöglicht hätte. Der Bundesrat stoppte die Novelle, obwohl der Deutsche Städtetag die Reformbemühungen unterstützt. Daher schrecken viele Städteplaner weiterhin davor zurück, Maßnahmen wie Tempo-30-Zonen, Spielstraßen oder Busspuren umzusetzen. Außerdem zeigen Umfragen eine Ablehnung der Bevölkerung, Parkplätze zu reduzieren, wodurch solche Maßnahmen für die Politik unpopulär werden können.
Sieg: In autoärmeren Städten wie Kopenhagen ist das Denken der Bürger ähnlich wie in Deutschland. Die Menschen dort setzen sich selten aus kulturellen Gründen auf das Fahrrad, sondern weil es am bequemsten ist. Das liegt daran, dass in Kopenhagen die infrastrukturellen Bedingungen stimmen.
Graf: Das stimmt und hat damit zu tun, dass die Verantwortlichen in Kopenhagen viel früher angefangen haben, die Stadt umzuplanen. Da hinken Städte in Deutschland ungefähr 30 Jahre hinterher.
Fassen wir zusammen: Wir möchten Innenstädte autoärmer gestalten – was muss dafür zeitnah umgesetzt werden?
Sieg: Die Reform des Parkraummanagements, das wir in vielen Städten beobachten, halte ich für richtig. Dazu gehört, Parkgebühren einzuführen und zu erhöhen, die die Nachfrage nach Parkplätzen reduzieren und eine bessere Nutzung der Flächen ermöglichen. Eine ‚City Maut‘ oder eine entfernungsabhängige Maut auf allen Straßen würde den Straßenverkehr in den Städten ebenfalls reduzieren. Gleichwohl können nachhaltige Fahrzeugtechnologien die negativen Effekte der Autos, etwa Lärm, Luftschadstoffe oder Unfallrisiken, reduzieren.
Graf: Eine technologische Wende halte ich ebenfalls für notwendig, aber nicht für ausreichend. Es muss zusätzlich ein Umdenken in der Bevölkerung und der Politik stattfinden, um technologische Veränderungen zu gestalten und sinnvoll zu verwenden.
Zu den Personen:
Prof. Dr. Antonia Graf ist seit 2016 Juniorprofessorin für Global Environmental Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Sie forscht beispielsweise zur Transformation des Mobilitätssektors und Akzeptanz der Energiewende. Zudem ist sie Leiterin der Nachwuchsforschungsgruppe „DynaMo – Mobilitäts-Energie-Dynamiken in urbanen Räumen“ und schließlich seit 2018 Mitglied im Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung.
Prof. Dr. Gernot Sieg leitet seit 2013 den Lehrstuhl für Industrieökonomik, insbesondere Infrastruktur- und Verkehrsökonomik an der Universität Münster. Zuvor war er Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der TU Braunschweig. Gernot Sieg ist außerdem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat beim Bundesminister für Digitales und Verkehr.
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2024.