Acht Freunde fürs Leben
Die Tafel hängt immer noch im S 10. Genau wie im Sommersemester 1964, als 300 Studienfänger, darunter eine Handvoll Frauen, ihre ersten Mathematik-Vorlesungen in diesem Hörsaal hoch unter dem Schlossdach besuchten. Acht von ihnen kämpften sich nicht nur gemeinsam durch ihr anspruchsvolles Studium, sie schlossen zudem eine Freundschaft fürs Leben. Heute treffen sie sich erneut; im Schloss, im vertrauten S 10, in dem es neben der bewährten Tafel natürlich längst auch digitale Präsentationstechnik gibt.
Für ihr Treffen hatten sie sich genau diesen Ort gewünscht, denn er ist für sie untrennbar mit der Erinnerung an ihre Vorlesungen verbunden. Horst, der Jüngste, ist im vergangenen Jahr leider verstorben, Uli ist verhindert. Aber Gotthard, Karl-Adolf, Karl-Heinz, Friedrich, Gerd und Jürgen, allesamt Kinder der Kriegsjahre 1943 bis 1945, die sich im Laufe des ersten Semesters auf unterschiedlichen Wegen kennenlernten, haben sich auf den Weg nach Münster gemacht. Seit ihrem Studium treffen sich die Freunde, die mit ihren Familien inzwischen über Deutschland verstreut leben, mindestens einmal im Jahr in wechselnden Städten.
Friedrich Münstedt erinnert sich noch gut an den Tag seiner ersten Vorlesung im Jahr 1964. „Jürgen, wie nahezu alle Studenten mit Sakko und Krawatte, fragte mich morgens vor dem Schloss: ‚Kann es sein, dass ich Sie kenne? Sie waren auch auf dem Fichte-Gymnasium in Hagen, oder?‘“ Damals war es unter Studierenden üblich, sich zu siezen.
60 Jahre nach dieser ersten Begegnung nehmen die sechs Alumni auf den Holzklappsitzen im S 10 Platz und hören Thomas Nikolaus zu. Der Professor für theoretische Mathematik und Sprecher des Exzellenzclusters „Mathematik Münster“ ist an diesem Samstag gekommen, um die Freunde zu begrüßen und ihnen einen Einblick in den Forschungsverbund und den Fachbereich zu geben. Mehr als 800 Publikationen seit 2019 allein von Cluster-Forschern, weltweit führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter den Mitgliedern, internationale Konferenzen in Münster, das im Bau befindliche „Centre of Mathematics Münster“ – das Renommee, das die münstersche Mathematik schon zu Zeiten Heinrich Behnkes genoss, ist ungebrochen. An den international bekannten Mathematikprofessor Heinrich Behnke, der bis Ende der 1960er-Jahre an der Universität Münster lehrte und forschte, erinnern sich die Freunde noch aus ihren eigenen Vorlesungen. „Münster war eine herausragende Adresse für Mathematik“, betont Friedrich Münstedt. Die Alumni sind froh zu hören, dass die Mathematik an der Universität Münster noch immer einen international hervorragenden Ruf genießt.
Fünf Diplom-Mathematiker, drei Lehramtskandidaten: Alle acht fanden nach ihrem Studium schnell einen Job. Mathematiker fehlten an den Schulen, und in der Industrie waren sie ebenfalls gefragt, auch mangels ausgebildeter Informatiker. Die Einführung dieses Studiums begann zu der Zeit erst an wenigen Hochschulen.
Das Mathematikstudium, erinnern sich die Freunde, sei gerade zu Beginn für alle hart gewesen. In den ersten Vorlesungen war der Hörsaal so überfüllt, dass nicht alle Studierenden einen Platz fanden. „Professor Petersson, Direktor des Zweiten Mathematischen Instituts, sagte damals eingangs: ‚Alles, was Sie in der Schule gelernt haben, können Sie vergessen‘“, erinnert sich Jürgen Kordt. „Und: ‚Seien Sie unbesorgt, bald werden die Sitzplätze für alle reichen, im nächsten Semester wird höchstens die Hälfte noch da sein.‘“ Und so kam es tatsächlich. Am Ende des Semesters waren es nur noch 80 Studierende. Aber die acht Freunde hielten durch.
Sie alle wuchsen in der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen auf, überwiegend in ärmlichen Verhältnissen, mehrere als Halbwaisen wie Friedrich Münstedt, dessen Vater während des Krieges gefallen war. „Meine Mutter legte größten Wert auf Bildung. Von ihrer dürftigen Hinterbliebenen-Rente zweigte sie in den ersten beiden Gymnasialjahren monatlich 20 Mark Schulgeld ab“, blickt Friedrich Münstedt zurück. Alleinerziehende Mütter waren seinerzeit keine Seltenheit, viele Verwandte und Freunde hätten ähnlich gehandelt.
Beim Fotoshooting für die Titelseite der Unizeitung scherzen die Freunde miteinander. Der Fotograf gibt Regieanweisungen. Alle wechseln ihre Positionen auf den Holzsitzen mehrmals. Es gibt kurzzeitig Verwirrung. „Ich glaub’, wir müssen es nochmal machen“, ruft jemand. Gelächter bei allen, die Stimmung ist gelöst, man spürt die langjährige Vertrautheit.
Nach dem Wiedersehen im S 10 brechen die Freunde auf in die Stadt, zum Abendessen bei Pinkus in der Altbierküche. Das nächste Treffen ist bereits vereinbart, es findet schon bald in Schwerin statt.
Autorin: Christina Hoppenbrock
Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2024.