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Münster (upm/ap).
Die Behandlung mit Placebos kann wirkungsvoll sein, bringt den Arzt aber in ein Aufklärungsdilemma.<address>© stock.adobe.com - cristianstorto</address>
Die Behandlung mit Placebos kann wirkungsvoll sein, bringt den Arzt aber in ein Aufklärungsdilemma.
© stock.adobe.com - cristianstorto

„Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist ein hohes Gut“

Rechtswissenschaftlerin Annabelle Wolf über das Aufklärungsdilemma bei Placebo-Behandlungen

Es gibt unterschiedliche Gründe für eine Behandlung mit Placebos. Doch in jedem Fall stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der ärztlichen Therapiefreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Die Juristin Annabelle Wolf spricht im Interview mit Anke Poppen über rechtliche Fallstricke und Lösungsansätze.

 

Was spricht für eine Therapie mit Placebos? Immerhin handelt es sich dabei um Scheinmedikamente ohne Wirkstoffe ...

Der Begriff ‚Scheinmedikament‘ ist negativ besetzt. Er suggeriert eine Täuschung des Patienten oder unterstellt, dass die Beschwerden nur eingebildet sind. Ich arbeite mit einer freieren Definition: Ein Placebo ist eine pharmakologisch wirkstofffreie Substanz, die bei Verabreichung eine Symptombesserung auslösen kann. Es gibt unterschiedliche Gründe, die für einen Einsatz sprechen. So birgt ein pharmakologisch wirkstofffreies Medikament in der Regel keine Nebenwirkungen oder kann eine Versorgungslücke schließen, wenn es gegen das spezifische Leiden noch keine Wirkstoffe gibt. Medizinische und psychologische Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Placebos etwa in der Schmerztherapie, bei Parkinson oder Depression empirisch messbar zu Linderung führen können.

Wie kann das sein?

Es gibt zwei Wirkmechanismen, die dem Placeboeffekt zugrunde liegen. Zum einen die Erwartungshaltung: Wenn ich ein Medikament einnehme, geht es mir besser. Dies funktioniert insbesondere bei der verdeckten Placebogabe, also ohne Wissen des Patienten. Zum anderen der Konditionierungseffekt. Hier knüpft auch die offene Placebogabe an: Zuerst wird beispielsweise ein Medikament mit pharmakologischem Wirkstoff verabreicht und später zu einem Placebo gewechselt. Der Patient ist inzwischen daran gewöhnt, die Medikamenteneinnahme mit einer Besserung seines Gesundheitszustandes zu verknüpfen.

Annabelle Wolf hat an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster zu den behandlungsvertraglichen Möglichkeiten und Grenzen der therapeutischen Nutzung von Placebos promoviert.<address>© privt</address>
Annabelle Wolf hat an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster zu den behandlungsvertraglichen Möglichkeiten und Grenzen der therapeutischen Nutzung von Placebos promoviert.
© privt

Dennoch birgt die Verabreichung von Placebos ein Dilemma. Welche Risiken gibt es?

Der Arzt befindet sich in einem Aufklärungsdilemma. Informiert er den Patienten, kann dies den Placeboeffekt und damit den Heilerfolg zerstören. Verschweigt er die Gabe von Placebos, sieht er sich haftungsrechtlichen Risiken ausgesetzt. Eine derartige Vorgehensweise tangiert das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Dies ist ein hochrangiges Rechtsgut – gleichzeitig muss natürlich das Patientenwohl berücksichtigt werden.

Wie gehen Ärzte in der Praxis damit um?

Sie müssen abwägen. Bedarf es der bewussten Täuschung des Patienten zu dessen eigenem Wohl und ist dies rechtlich möglich und medizinisch notwendig? Wann ist eine Aufklärung erforderlich? Bisher gibt es hier keine pragmatische und rechtssichere Lösung. Aktuell kommen häufig sogenannte Pseudoplacebos zum Einsatz, also pharmakodynamisch aktive Substanzen, die allerdings bei der Erkrankung keinen klinischen Nutzen entfalten, entweder weil die Dosis zu gering ist oder die behandelte Krankheit nicht darauf anspricht.

Wie kann denn der Einsatz von Placebos rechtlich auf sicheren Boden gestellt werden?

Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten darf nicht unterlaufen werden, dies wäre ärztlicher Paternalismus. Ich schlage daher das Konstrukt der antizipierten Rahmeneinwilligung nach Aufklärung vor: Der Patient wird zu Beginn der Behandlung darüber informiert, dass Placebos verwendet werden können, und willigt in den Entscheidungsspielraum des Arztes ein. Sollte es dann im Verlauf zur Placebogabe kommen, bedarf es keiner weiteren Information. Natürlich darf der Patient die Einwilligung jederzeit widerrufen. Dies wäre ein rechtlich sicherer Rahmen, der auch zu einem breiteren Verständnis und einer höheren Akzeptanz von Placebos beitragen würde. Für eine solche Aufklärung müsste das Gesundheitssystem der Arzt-Patienten-Beziehung allerdings mehr Zeit und Raum schaffen.

Dieser Artikel stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 4, 12. Juni 2024.

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